Einkauf der Zukunft

Prozesse abwickeln reicht nicht mehr

Die Digitalisierung wird den Einkauf deutlich verändern. Wie sollte er sich angesichts wechselnder Beschaffungsportfolios, der steigenden Vernetzung mit Partnern und der Echtzeitverfügbarkeit interner und externer Daten in Zukunft aufstellen? Dieser Frage geht Elmar Bräkling, Professor für Beschaffung und Logistik im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Koblenz, seit Jahren nach. Einige Gedanken formulierte der Wissenschaftler auf einer Veranstaltung des eProcurement-Dienstleisters Newtron.

 (Bild: Newtron GmbH)
Professor Dr.-Ing. Elmar Bräkling (l.), Professor der Hochschule Koblenz und Experte für Beschaffung und Logistik, als Keynote Speaker des Expertenforums des eProcurement-Dienstleisters Newtron. Neben ihm: Gastgeber Olaf Conradt, Geschäftsführer von Newtron. (Bild: Newtron GmbH)

In der Fertigungswirtschaft spiele in vielen Bereichen die Individualisierung des Bedarfs eine große Rolle, sagt Dr. Elmar Bräkling, Professor für Beschaffung und Logistik im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Koblenz. „Das heißt: Die Kunden möchten hochindividualisiert ausgestaltete Produkte – bis hinunter zu Losgröße 1 – in möglichst kurzen Leadtimes haben. Und das muss sich zu industrialisierbaren Kosten realisieren lassen.“ Digitalisierung mache das möglich. Nötig seien dafür hochflexible Fertigungssysteme, die vom Endkunden über die eigene Fertigung bis hin zu den Lieferanten miteinander vernetzt sind. Kernkomponente sei laut Bräkling das Internet der Dinge: Herkömmliche Erzeugnisse und Produkte würden intelligent, indem sie ein eigenes Gedächtnis bekommen, beispielsweise durch RFID-Technologie oder andere Lösungen, durch die Mensch und Maschine kommunizieren können. Dadurch könnten nicht zuletzt auch neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. „Im Rahmen von Industrie 4.0 wird also über die klassische physische Supply Chain, in der Produkte und Dienstleistungen entstehen, eine dezentral gesteuerte digitale Supply Chain gelegt“, erklärt Bräkling. Darüber solle der Einkauf Bescheid wissen, sprich Prozesskompetenz besitzen und Lieferanten in die Systematik einbinden, um mitreden zu können. Bräkling: „Seit jeher beklagen wir uns im Einkauf darüber, dass wir nicht eingebunden sind in grundsätzliche Entscheidungen und zu spät ins Rennen kommen. Doch das Problem liegt bei uns. Denn, wenn das stimmt, heißt das doch nichts anderes als: Wir haben als Sparringspartner intern keinen Mehrwert. Also müssen wir etwas dafür tun, dass wir von den Kollegen anders wahrgenommen werden, und zwar als kompetente Organisation, die Nutzen stiftet und anderen Abteilungen hilft.“

 (Bild: Newtron GmbH)
Workflow einer E-Auktion von Newtron (Bild: Newtron GmbH)

Digitalisierung braucht noch

Hektik und blinder Aktionismus seien nach Ansicht von Bräkling aber nicht angesagt. „Den Zeitraum, in dem sich Fertigungsorganisationen im beschriebenen Sinne flächendeckend verändern werden, schätzen wir auf über 15 Jahre“, so Bräkling. Außerdem betreffe die Digitalisierung in der Fertigung nicht alle gleich stark, betont er. Die Unterschiede lägen in den Kundenanforderungen. „Wenn ich ein genormtes Massengut produziere, wie standardisierte Ladungsträger, dann spielt die Fähigkeit, schnell und individuell bis auf Losgröße 1 zu fertigen, überhaupt keine entscheidende Rolle. Berücksichtigt werden muss, dass die digitale Transformation im eigenen Unternehmen schließlich auch viel Geld kostet, das nur dann ausgegeben werden sollte, wenn es auch wirklich sinnvoll ist.“ Also sei es ganz wichtig, einen Blick dafür zu haben, wie breit und wie tief die Digitalisierung jeweils zu sein hat, um das Unternehmen zukunftsfähig zu machen.

Blick nach Innen

Ist die Entscheidung für eine digitale Transformation seitens der strategischen Geschäftsführung gefallen, habe das je nach Höhe des Digitalisierungsgrades Konsequenzen für den Einkauf. Bräkling: „Deshalb sollte der Einkauf von Beginn der Transformation an eine Stimme haben, also eigentlich schon bei der Produktidee, noch vor der Produktentwicklung.“ Hierfür geeignet seien insbesondere „sozial anschlussfähige Führungskräfte mit Fachbereichserfahrung.“ Nur wer die Probleme der Mitstreiter kenne und verstehe, mit ihnen argumentieren könne und in der Lage sei, genau dafür einen Nutzen zu stiften, könne seine eigene Position in den Dialog einbringen.

Wenn das System ausfällt

Auch sollte der Einkauf über neue Business-Risiken, die sich im Rahmen der Digitalisierung ergeben, Bescheid wissen. Was, wenn beispielsweise das anfangs beschriebene End-to-End-System ausfällt? Wenn dann nicht schnell und unkompliziert auf eine Second Source gewechselt werden kann, gibt es Probleme. Aber ein Second-Source-System ständig mitlaufen zu lassen ist teuer. Es gilt auch hier jeden Einzelfall zu prüfen. Weitere Risiken seien Datenklau und Dateninfiltration, sprich Sabotage, sagt Bräkling. Hat der Einkauf darüber keine Ahnung und dafür keine Lösung parat, werde es schwer mit seiner Akzeptanz nach Innen ins Unternehmen. Es gehe also für den Einkauf darum, verstärkt mit der IT und Rechtsabteilung zusammenzuarbeiten, um gemeinsam marktfähige Industrie 4.0-Lieferanten- und Industrie 4.0-Risikostandards zu entwickeln. Dafür sollte der Einkauf der Zukunft offen sein und sich entsprechend einbringen können. Gleiches gelte für die operative Supply-Chain-Verzahnung des Einkaufs, also die Integration oder zumindest enge Kooperation der Funktionen Beschaffung und Logistik.

Ebenen in Einklang bringen

„In Marktrichtung haben wir zwei Ebenen des Einkaufs: einerseits eine strategisch-planerische Ebene, sprich Sourcing-Strategien, Lieferantenmanagement et cetera“, sagt Bräkling. „Und andererseits haben wir die Marktbearbeitung, das Liniengeschäft.“ Auf der strategisch-planerischen Ebene ziehe die Digitalisierung eine Anpassung der Instrumente nach sich. Wenn sich im Zuge der Vernetzung von IT, Logistik und Fertigung – oder auf der Produktseite durch Hardware, Software und Datenmanagement – Prozesse und Produkte verändern, passen oft die hergebrachten Materialgruppen-Schlüssel nicht mehr. „Man muss nicht alles anders machen, aber man sollte hinterfragen, an welchen Stellen sich durch die Digitalisierung Änderungen vollziehen, weil sich Märkte verändern. Und dann muss ich auch die Materialgruppenschlüssel so anpassen, dass sie marktgerecht werden“, schildert Bräkling. Hier komme es auf eine Arretierung der Materialgruppen im Hinblick auf Industrie 4.0-Technologien wie 3D-Technologie oder Big-Data-Services an. Es sind also Lieferanten gefragt, die das bieten können. Ansonsten greifen nicht zuletzt auch die digitalen Einkaufs-Tools und -Prozesse, wie eAuktionen (siehe Grafik), ins Leere.

 

 (Bild: Newtron GmbH)
Ein eProcurement-Workflow grafisch dargestellt. (Bild: Newtron GmbH)

Noch immer People-Business

Im Liniengeschäft erfordern nach Bräkling die neuen Technologien und Geschäftsmodelle eine selektive Anpassung des Marktverhaltens im Einkauf. Bräkling unterscheidet hier je nach Prägung vier Markttypen: Wettbewerbspartnerschaften, Wertschöpfungspartnerschaften, Abwicklungspartnerschaften und Beziehungspartnerschaften. Der Einkauf werde sich nicht in allen vier Fällen zum „digitalen Algorithmus“ entwickeln, wie einige Marktbeobachter befürchten, sondern auch im digitalen Zeitalter ein People Business bleiben. „Der persönliche Kontakt spielt weiterhin eine wesentliche Rolle“, so Bräkling. „Dennoch gibt es Veränderungen im Detail.“ Wertschöpfungspartnerschaften, in denen einkaufende Unternehmen langfristig und auf Augenhöhe mit Zulieferern zusammenarbeiten, die System- und Problemlösungskapazität sowohl für Produkte und Bauteile als auch für Prozessinnovationen anbieten, bleiben ein kooperatives Geschäft mit dem Fokus auf Innovation und Zeit. Neue Technologien würden aber den Marktdialog und das Marktverhalten verändern.

Prozesswissen schützt Firmen

Durch die Digitalisierung, also die IT-Integration in die Produktionsmittel, entstünden zudem neue Geschäftsmodelle. „Ich kann Maschinen verkaufen, wie ich heute IT-Software verkaufe“, erläutert Bräkling. Vernetzung und Steuerungssoftware in den Maschinen und Anlagen bestimmen dann die eigentliche Wertschöpfung. Regelmäßige Prozessänderungen, Release-Wechsel, komplexe Maintenance-Services und Update-Zwang seien Hebel der Lieferanten, die sie gewinnbringend einsetzen können. „Der klassische Maschineneinkäufer, der zwar exakt weiß, wie Bohren, Drehen, Fräsen und Schweißen geht, aber von den Veränderungen in der Wertschöpfung keine Ahnung hat, dürfte Probleme bekommen. Denn er wird die Konsequenzen seiner Anschaffung auf der Kostenseite möglicherweise falsch einschätzen“, betont Bräkling.

Abhängigkeiten bleiben

Beziehungspartnerschaften, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Unternehmen vom Lieferanten abhängig ist, weil dieser ein Monopol besitzt, werden sich im Zeitalter der Digitalisierung laut Bräkling erst einmal nicht verändern. „Macht bleibt Macht“, sagt er. „Die persönliche Beziehung zum Lieferanten bestimmt hier wesentlich den Erfolg der Zusammenarbeit.“ Der persönliche Draht zum Geschäftspartner diene als Schadensbegrenzung und verschaffe Vorteile gegenüber dem eigenen Wettbewerb. „Was sich aber verändern wird, ist die Quantität von Monopolbeziehungen“, so Bräkling. „Die neuen Fertigungstechnologien ermöglichen für viele Produkte und Leistungen – nicht für alle – eine Absenkung von Wechselbarrieren.“ Allerdings müsse der Einkauf hier klug vorgehen und fähig sein, den Fachbereichen, die oft eine lang anhaltende intensive Beziehung zu den Lieferanten pflegen und diese nicht so einfach aufgeben wollen, mit guten Argumenten entgegenzutreten und ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen, um auf der Lieferantenseite bessere Konditionen durchzusetzen.

Einkaufsorganisation angepasst

Was heißt das alles jetzt für die Einkaufsorganisation? „Klassisch haben wir eine Drei-Ebenen-Struktur“, schildert Bräkling. „Oben das Leadership, also eine Einkaufsleitung – eingebettet im Unternehmen und angebunden an Lieferanten. Auf der nächsten Ebene befindet sich der strategische und operative Einkauf, der in der Regel eine Lead-Bying-Matrix aufweist – Materialgruppen orientiert. Und wir haben auf der dritten Ebene mit Querschnitts-Funktion den Support, der das Controlling übernimmt und den operativen Einkauf mit IT-Systemen, Tools und Prozessen unterstützt.“ Fester Bestandteil dieser IT-Systeme und Tools ist beispielsweise eine eProcurement-Lösung mit elektronischem Katalog (siehe Grafik). Wie verändert sich durch die Digitalisierung dieses Profil? Bräkling: „Im Grundsatz bleibt es erhalten. Es ändern sich aber einige Details.“ Künftig sei es wichtig, auf der Ebene unterhalb des Leaderships die Individualkompetenzen der Fachkräfte stärker als bislang zu berücksichtigen, um die Wirkung des Einkaufs im Unternehmen und in den Märkten zu erhöhen. Bräkling unterscheidet hier zwischen den sogenannten Tekkies (Technologieexperten), die für die Marktvorbereitung zuständig seien und den Dealmakern mit Fokus auf die Realisierung aller Marktaktivitäten. Auch auf der dritten Ebene, dem Support, werde es im Rahmen der Digitalisierung Veränderungen geben. Der Bereich IT-Systeme, Tools und Prozesse werde technologisch aufgerüstet und Industrie 4.0-fähig gemacht.

Wer verharrt, verliert

Zusammenfassend meint Bräkling: „Die Digitalisierung bedeutet nicht eine radikale Veränderung der Einkaufswelt in ihrer Grundlogik. Einkauf bleibt ein People-Business. Aber die Digitalisierung verändert die Handlungsbasis, und zwar das Spiel von Angebot und Nachfrage. Und das ist eine Kernkompetenz des Einkaufs.“ Wer in der alten Materialgruppen-Denke verharre, werde über kurz oder lang bedeutungslos. Der Einkauf müsse sich nicht zuletzt im eigenen Unternehmen als zukunftsgerichtet und lösungsorientiert präsentieren. Das schaffe Vertrauen und mache den Einkauf zur allseits respektierten Fachabteilung, die in Entscheidungsprozesse einbezogen wird. „Es ist wichtig, Marktentwicklungen antizipieren zu können und konstruktiv dabei mitzuwirken, die Risiken der anderen Abteilungen im Unternehmen zu dämpfen und gleichzeitig wirtschaftlich voranzukommen. „Und das ist viel mehr als bloße Prozessabwicklung“, so Bräkling.