Christian Mehrtens von SAP:

„Die Nähe zum Kunden sollte man nicht unterschätzen“

Das SAP-Kundentreffen Sapphire Now 2019 in Orlando, USA. Für die nächsten Versammlungen muss die SAP den virtuellen Raum betreten. Das gilt auch für die PLM-Infotage 2020 in Deutschland. (Bild: SAP SE)
Das SAP-Kundentreffen Sapphire Now 2019 in Orlando, USA. Für die nächsten Versammlungen muss die SAP den virtuellen Raum betreten. Das gilt auch für die PLM-Infotage 2020 in Deutschland. (Bild: SAP SE)

Die Schnittstellen rund um das Engineering gelten vielen als zentral für die nächsten Stufen der Industrialisierung. Der digitale Zwilling als Lösungsansatz wird von Unternehmen zu Unternehmen anders interpretiert. Können sie sich mit Ihren Partnern auf ein gemeinsames Verständnis eines Digital Twin einigen?

Mehrtens: Wenn Industrie-4.0-Komponenten wie Maschinen oder Produkte miteinander kommunizieren sollen, brauchen sie eine gemeinsame Sprache. Um die Interoperabilität zu erreichen, setzt SAP auf die Verwaltungsschale, die von der Plattform-Industrie-4.0 definiert wurde. Sie spielt auch für den digitalen Zwilling eine zentrale Rolle. Denn deren Austausch sollte zwischen unterschiedlichen Unternehmen genauso möglich sein wie zwischen verschiedenen Plattformen. Zur Unterstützung haben wir eine Ausprägung der Verwaltungsschale im Open Source umgesetzt. Darauf kann jeder Partner, aber auch jedes andere Unternehmen zugreifen und in die eigenen Produkte einbauen. In der Zusammenarbeit mit unseren Partnern achten wir darauf, dass beide Seiten ihre Vorstellungen des digitalen Zwillings einbringen können. Für uns ist ein gemeinsames Verständnis des Digital Twins ein entscheidendes Erfolgskriterium. Im Bereich Luftfahrt steht bereits ein digitaler Zwilling eines Flugzeugs, mit dem sich die System-Verfügbarkeit, die Ausfallraten und die Zuverlässigkeit genauso simulieren lassen wie Reparaturaufgaben, Stresstests oder die Ersatzteilbevorratung. Die Integration mit unserer SAP S/4 Suite machen solche Produkte für Kunden besonders interessant, weil für solche Simulationen alle Daten verfügbar sein müssen. Unsere Partner bieten komplementäre, teilweise aber auch überlappende Lösungen an, die sie dann bei den Endkunden integrieren.

Wenn das Engineering an Bedeutung noch zunimmt, warum hören wir aktuell so wenig von SAP PLM?

Mehrtens: Stille um das Thema SAP PLM? Diesen Eindruck teile ich nicht. Zu unseren PLM-Infotagen kommen hier in Deutschland zwischen 400 und 500 Teilnehmer. Bei den Jahrestagungen der SAP-User gehört PLM traditionell zu den Themen, die am stärksten nachgefragt und diskutiert werden. Bestätigen kann ich aber, dass die Integration des Engineerings in die Geschäftsprozesse zusehends wichtiger wird. Denken Sie nur an die Variantenkonfiguration – also die Möglichkeit, genau das zu bauen, was sich der Kunde wünscht. Wir haben SAP PLM daher überarbeitet. Ergebnis sind zwei neue Produkte. Mit SAP Production Engineering and Operation – oder auch PEO – erweitern wir den digitalen Kern von SAP S/4 Hana. Wir schlagen also eine Brücke vom Engineering zum Manufacturing. Das SAP Engineering Control Center, kurz: ECTR, integriert externe Autorensysteme in die SAP-Umgebung. Dabei kann es sich um mCAD, eCAD oder Simulation handeln. Auf diese Weise können Sie lokal erzeugte Produktdaten und Dokumente unternehmensweit verfügbar machen, strukturiert verwalten oder mit SAP-Objekten verknüpfen.

200 Milliarden US-Dollar Umsatz könnten SAP-Partner in den nächsten fünf Jahren erwirtschaften, beruft sich die SAP auf eine aktuelle Studie. Mit welchen Geschäftsmodellen kommen Ihre Partner auf diese Zahlen, wenn immer mehr Anwender in die Cloud umziehen?

Mehrtens: Wir beobachten im Mittelstand eine immer größere Bereitschaft, in die Cloud zu wechseln. Zumal sich deren Vorzüge jetzt in der Covid-19-Krise besonders deutlich zeigen. Wir gehen davon aus, dass die Unternehmen ihre Investitionen in die Digitalisierung erhöhen – die Mittel werden in Technologien für das Remote Working genauso fließen wie in die digitale Supply Chain, mit der die Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten optimieren können. Die wenigsten Unternehmen stemmen den Umzug in die Cloud jedoch allein, sie brauchen Beratung und Begleitung und damit unsere Partner. Gartner und IDC prognostizieren vor allem jenen Partnern zusätzliches Wachstum, die auf der SAP-Plattform eigene Lösungen entwickeln. Ich ziele beispielsweise auf Apps ab, mit denen Endkunden möglichst einfach komplexe neue Technologien wie KI, Big Data, IoT oder die Blockchain nutzen können. Diese Apps können Partner in unserem App Center hochladen. Partnerlösungen, die unser Portfolio ergänzen, verkauft dann auch unser Vertrieb.

Die 2019 gegründete Open Industry 4.0 Alliance hat nach dem Ausfall der Hannover Messe 2020 ihre wohl wichtigste Präsentationsplattform verloren. Wie geht es denn mit der Initiative voran?

Mehrtens: Natürlich ist es schade, dass die Open Industrie 4.0 Alliance ihre Fortschritte nun nicht in Hannover präsentieren kann. Denn sie hat in den vergangenen Monaten einiges erreicht: Die Zahl ihrer Mitglieder hat sich innerhalb eines Jahres auf nunmehr 55 Mitglieder mehr als vervierfacht. Der Zusammenschluss vieler Unternehmen hat bereits wichtige Leitlinien für die Interoperabilität entwickelt. Momentan diskutiert die Allianz wie viele andere Organisationen und Unternehmen die Idee einer virtuellen Messe. Aber spätestens auf der SPS im November will die Open Industry 4.0 Alliance dann wieder live und vor Ort in Nürnberg ihre Fortschritte präsentieren. Sie ist auf jeden Fall auf einem guten Weg.

Der Umstieg auf SAP Hana soll aufgrund besserer Konnektivität so manche Insellösung und Workaround ersparen. Welche Rückmeldungen zu den Effekten Ihrer Hana-Versionen kommen aus der fertigenden Industrie bei Ihnen an?

Mehrtens: Unsere Kunden streichen vor allem die Echtzeitfähigkeit und schnelle Rechenleistung unserer SAP Hana Datenbank heraus. Sie ermöglicht ihnen Analysen, die sonst viel zu lange dauern würden. Mit einer In-Memory-Datenbank können sie Big Data auf ein neues Level heben. Was bei ihnen ebenfalls gut ankommt: Der direkte Zugriff und dass es keine Indices oder programmierte Aufsummierungen mehr gibt.

Ist eine Lösung für die Frage der indirekten Lizenzen in Sicht?

Mehrtens: SAP bietet Kunden seit vergangenem Jahr mehrere Optionen an, um die indirekte Nutzung, also den Zugriff von Drittsystemen auf SAP-Anwendungen, adäquat abzubilden und zu verrechnen. DSAG-Vorstand Operations/Service & Support Andreas Oczko bescheinigte unserem Unternehmen, dass es ein ‚einfaches und transparentes Modell‘ für ‚historisch gewachsene, hochkomplexe, vertragliche Vereinbarungen‘ gefunden habe. Die Lizenzbedingungen der SAP zu indirekter Nutzung und Digital Access stehen sowohl mit den urheberrechtlichen als auch mit den kartellrechtlichen Vorschriften im Einklang. Die bestehende Interoperabilität mit Angeboten von Drittanbietern wird durch die Lizenzbedingungen der SAP nicht beeinträchtigt.

Die Gretchen-Frage zum Schluss: Nach welchen Kriterien sollte ein Industrieunternehmen unterscheiden, ob es sich an SAP direkt oder einen Partner wendet?

Mehrtens: Abhängig von den jeweils individuellen Anforderungen sollten sich Industrieunternehmen anschauen, welche unserer Partner Spezialisten für ihre Branche sind oder den Geschäftsbereich abdecken, in dem sie Unterstützung brauchen. Denn diese Partner können auf Basis ihrer Expertise kundenspezifische Add-ons für unser Lösungsportfolio bauen. Generell sind unsere Partner viel näher an den Mittelstandskunden dran – auch räumlich. Die Bedeutung der geografischen und kulturellen Nähe zum Kunden sollte man nicht unterschätzen. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen spielt sie eine große Rolle. (ppr)