Stufe 4 auf dem Weg zur Smart Factory

Funktionale Vernetzung
und der Digital Thread

Die Begriffe rund um Industrie 4.0 werden immer vielfältiger. Im Fall der ‚Funktionalen Vernetzung‘ ist eine der neueren Ergänzungen der sogenannte Digital Thread, oder auf deutsch der digitale Faden. Gemeint ist der Ansatz, Daten aus unterschiedlichen IT-Systemen zusammenzuführen, um daraus neue Erkenntnisse zur Optimierung des Fertigungsprozesses abzuleiten. Gleichzeitig erweitert der Digital Thread den digitalen Zwilling um die Dimension der Zeit. Aber was haben Manufacturing-Execution-Systeme damit zu tun?

Smart Factory - Funktionale Vernetzung und der Digital Thread
Bild: © j-mel, westend61 / Stock.adobe.com / MPDF Mikrolab GmbH

Ein Blick auf die heutige Fertigungsindustrie zeigt, dass MES-Anwendungen nach wie vor von zentraler Bedeutung sind. Unterschiedliche Gremien und Experten bestätigen die Notwendigkeit von MES und deren Nutzen immer wieder. Aber mehr denn je muss das MES im jeweiligen Unternehmen die ihm zugedachte Rolle der zentralen Informations- und Datendrehscheibe übernehmen. Insellösungen etwa für BDE (Betriebsdatenerfassung), CAQ (Computer Aided Quality assurance) oder Traceability (Rückverfolgung) werden diesen Anforderungen definitiv nicht mehr gerecht. Zur Realisierung des Digital Thread braucht es ein integriertes und interoperables System.

Der digitale Faden

Beim Digital Thread geht es um die Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen IT-Systemen zum Zweck der Anreicherung von Informationen – also die Erweiterung des Horizonts über das MES hinaus. Auf dieser Basis können Erkenntnisse zur Optimierung des Fertigungsprozesses gewonnen bzw. generelle Anforderungen (z.B. Traceability) besser erfüllt werden. Die Daten stammen aus verschiedenen Punkten der Wertschöpfung oder daran indirekt beteiligten Systemen etwa für die Logistik oder das Gebäudemanagement. Der Digital Thread ist der sprichwörtliche Faden, der sich quasi virtuell durch die gesamte Fertigungslandschaft zieht und Informationen aus unterschiedlichen IT-Systemen zusammenführt.

Die funktional vernetzte Fabrik

Die funktionale Vernetzung im Sinne der beschriebenen Datenintegration gewinnt immer mehr an Bedeutung. So führt die funktionale Vernetzung gleichzeitig zu einer ganz neuen Komplexität – sowohl technisch als auch organisatorisch. Umso wichtiger ist es, dass sowohl die Fertigungsmitarbeiter als auch das Management die Eckpfeiler der Smart Factory wie Transparenz und Reaktionsfähigkeit verstehen und umsetzen. So ist sichergestellt, dass mit der funktionalen Vernetzung neue Möglichkeiten zur Optimierung oder sogar neue Geschäftsmöglichkeiten entstehen und nicht ein heilloses Chaos.

Zielführende Vernetzung

Damit die funktionale Vernetzung zu den angestrebten Optimierungen führt, sollten zunächst die Anforderungen geklärt, die dafür notwendige Struktur definiert und anschließend gezielt ausgewählte Schnittstellen implementiert werden. Die folgenden Beispiele von funktionaler Vernetzung stellen eine Auswahl dar, die je nach Größe und Branche eines Fertigungsunternehmen unterschiedlich relevant sein können.

Produktion und Logistik vernetzt

MES-Lösungen bieten in der Regel bereits Intralogistik-Funktionen. Durch die Vernetzung mit einem Warehouse Management System (WMS) können die vorhandenen Funktionen noch einmal erweitert werden. Beispielsweise überwacht das MES Hydra von MPDV im Rahmen der Anwendung MPL (Material- & Produktionslogistik) definierte Bestände von Material und Zwischenerzeugnissen in der Fertigung – also sogenanntes WiP-Material (Work in Progress). Dabei arbeitet das MES mit aktuellen Beständen in der Fertigung und verfügt damit über viel detailliertere Informationen als ein ERP, das üblicherweise nur Bestände kennt, die am Auftragsende verbucht werden. Außerdem kann das System die voraussichtliche Reichweite von ausgewählten Materialien hochrechnen. Wird das MES mit der LAgerverwaltung gekoppelt, könnte man nicht nur die Bestände einzelner Materialpuffer überwachen, sondern Informationen über Lagerplätze in der Fertigung mit Daten anderer Lagerorte korrelieren, die im WMS geführt werden. Dadurch könnten Materialengpässe und damit verbundene Verzögerungen mit geringem Aufwand früher erkannt, umgangen oder gar vermieden werden. Durch die funktionale Vernetzung mit einem WMS kennt das MES auch die genaue Position des Materials und kann diese beispielsweise am Shopfloor Client anzeigen. Ein weiteres Beispiel: Hydra-MPL verfügt seit einiger Zeit über ein integriertes Transportmanagement im Shopfloor. Damit können Transportaufträge automatisch generiert werden – etwa immer dann, wenn Material an einer Maschine benötigt wird oder fertiges Material abtransportiert werden soll. Auch beim Rüsten kann das Transportmanagement unterstützen, indem benötigte Ressourcen (z.B. Werkzeuge) automatisch per Transportauftrag angefordert werden. Die Kombination mit einem WMS würde eine automatische Ansteuerung von Transportmitteln (etwa ein fahrerloses Transportsystem) inkl. automatischer Routenplanung ermöglichen. Durch die Übernahme von Transportaufträgen aus dem MES könnten Versorgungsprozesse automatisiert abgebildet werden. Aktuell analysiert der MES-Hersteller MPDV die Logistiksoftware von Viastore, um weitere vielversprechende Anknüpfungspunkte zu finden.

Das Vier-Stufen-Modell für die Smart Factory

Smart Factory - Funktionale Vernetzung und der Digital Thread
Bild: MPDV Mikrolab GmbH

MES-Hersteller MPDV hat den Weg zu einer Smart Factory in einem Vier-Stufen-Modell skizziert. Mit Stufe 1 soll die komplette Fertigungslandschaft transparent gemacht werden, damit in Stufe 2 die Reaktionsfähigkeit sichergestellt und verbessert werden kann. Die dritte Stufe sieht darauf basierend die Einrichtung von Regelkreisen und selbstregelnden Mechanismen vor. Dabei soll die Rolle des Menschen in der Fabrik keineswegs ersetzt, wohl aber heutigen Bedingungen angepasst werden. Letztendlich legen die drei Stufen das Fundament für Stufe 4, in der die Systeme funktional miteinander vernetzt werden können. Weitere Erläuterungen liefert das neue Whitepaper von MPDV, das sich kostenfrei auf der Website des Anbieters anfordern lässt.

mpdv.de/itpwp4i40

Nutzen für Fertigungsplaner

Es gibt Fertigungsprozesse, bei denen die Umgebungsbedingungen relevant oder sogar kritisch sind. In diesem Kontext bietet sich die Vernetzung der Fertigungsplanung und -steuerung mit dem Gebäudemanagementsystem an. Beispielsweise können temperaturkritische Prozesse für Zeiten eingeplant werden, in denen das Gebäudemanagement mit die Temperatur sicher beherrscht. Alternativ dazu kann vor Beginn solcher Prozessschritte die Klimatisierung der Fabrikhalle angepasst werden. Auch dynamische Restriktionen bei der Planung können durch Informationen des Gebäudemanagements gesteuert werden: zum Beispiel eine Beschränkung der Anzahl von gleichzeitig laufenden Öfen zur Mittagszeit an heißen Tagen oder Blockierung bestimmter Hallentore an kalten Tagen, während temperaturkritische Prozesse laufen. Auch die Vernetzung mit der Energieversorgung der Fertigung kann sinnvoll sein – insbesondere bei energieintensiven Fertigungsverfahren. Beispielsweise können Arbeitsgänge mit besonders hohem Energieverbrauch in Zeiten gelegt werden, zu denen die Energiebeschaffungskosten niedrig sind, bzw. für die kostengünstige Energiekontingente beschafft werden können. Über das Lastspitzenmanagement lassen sich ebenfalls Energiekosten reduzieren.

Rückverfolgung und Lieferkette

In einigen Branchen muss der Herstellungsprozess jedes einzelnen Artikels lückenlos dokumentiert werden. Mit der zunehmenden Individualisierung von Produkten wird dies für viele Firmen wichtiger werden, um später Service und Support für die Produkte leisten zu können. Reichte es bisher aus, zu dokumentieren, welche Rohmaterialien eingeflossen sind, so werden künftig zusätzliche Parameter von Bedeutung sein. Nicht alle dieser Informationen werden direkt vom MES erfasst. Umso wichtiger ist die Vernetzung mit anderen IT-Systemen, die diese Daten bereitstellen. Beispielsweise können Werte der Raumklimatisierung (Gebäudemanagement), genutzte Transportwege bzw. -mittel (Logistik), Daten vom Vorlieferanten (Supply Chain Management) und sonstige Daten aus dem Industrial Internet of Things (IIoT) im MES konsolidiert werden. Ein Anwendungsbeispiel für die Vernetzung von IT-Systemen über die Lieferkette hinweg ist die Anbindung von Balluf Mold-ID an Hydra-WRM (Werkzeug- & Ressourcenmanagement). In dieser Kombination werden Spritzgießwerkzeuge auch dann überwacht, wenn sie bei einem Sublieferanten genutzt werden. Hierbei geht es einerseits um die Einhaltung von vorgegebenen Wartungsintervallen und andererseits um die Dokumentation der Nutzung des Werkzeugs. Die dezentrale Erfassung relevanter Daten erfolgt mittels Mold-ID auf einem RFID-Chip am Werkzeug. Sobald das Werkzeug zurück ist, schließt sich mit der Übernahme der Daten ins MES die informationstechnische Lücke zwischen den beiden Unternehmen. Durch Korrelation der Daten mit den chargenbezogenen Informationen zu den Artikeln vom Sublieferanten können die dezentral erfassten Daten auch für die Rückverfolgung genutzt werden.

Die Vernetzung von Produktion und Logistik bietet viel Raum für Verbesserungen. (Bild: MPDV Mikrolab GmbH)
Die Vernetzung von Produktion und Logistik bietet viel Raum für Verbesserungen.
Bild: MPDV Mikrolab GmbH

Daten für die Qualitätssicherung

Ein anschauliches Beispiel der funktionalen Vernetzung ist die Nutzung von Modell-Daten aus der Konstruktion zur Definition von Merkmalen, die im Rahmen der fertigungsbegleitenden Qualitätsprüfung erfasst werden. Damit wird die bisher manuelle Prüfplanung deutlich erleichtert, da Parameter wie Zielwert und Toleranz der zu prüfenden Merkmale automatisiert aus dem CAD-Modell übernommen werden. Das reduziert sowohl den Aufwand für die Planung als auch die Wahrscheinlichkeit, dass dabei Tippfehler passieren. Die erfassten Prüfergebnisse dienen im Anschluss nicht nur der Qualitätssicherung in der Fertigung, sondern werden auch an den Konstrukteur zurückgespielt. Auf dieser Basis kann er das Produkt weiter verbessern, somit schon im Design für eine höhere Produktqualität sorgen und gleichzeitig die Fertigung durch die Reduzierung von Nacharbeit entlasten. Erste Funktionen zur Übernahme von Prüfmerkmalen aus CAD-Modellen bietet das MES Hydra seit kurzem – eine Ausweitung des Funktionsumfangs ist bereits in Diskussion. Eine weitere, bereits seit längerer Zeit realisierte Anwendung in dieser Richtung ist die Übernahme von NC-Programmen aus einem Product Lifecycle System (PLM). Mit Hydra-DNC können diese Daten in Abhängigkeit zum anstehenden Auftrag direkt an der Maschine verwendet werden.

Vom digitalen Zwilling zum Digital Thread

Alle genannten Beispiele für funktionale Vernetzung basieren auf der Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen Systemen im Sinne des Digital Thread. Dabei erweitert insbesondere die Anbindung des Konstruktionsbereichs an das MES den Blickwinkel auf den kompletten Lebenszyklus eines bestimmten Artikels bzw. eines Produkts. Der digitale Zwilling der Produktion oder einzelner Produkte bekommt damit eine Zeitachse. Davon profitieren sowohl Hersteller als auch spätere Nutzer der Produkte. Gerade in Zeiten immer kürzerer Lebenszyklen und stetig steigender Variantenvielfalt ist eine solche Rückkopplung wichtig, um schnell aus gewonnenen Erfahrungen und aufgetretenen Fehlern lernen zu können. Die zielgerichtete funktionale Vernetzung fördert darüber hinaus den weiteren Ausbau aller vorangehenden Stufen der Smart Factory: Transparenz, Reaktionsfähigkeit und Selbstregelung. Damit wird aus dem Vier-Stufen-Modell selbst ein Regelkreis zur Fertigungsoptimierung – ganz im Sinne von Industrie 4.0.