Industrial Consumerism

Eine Revolution für den Industrievertrieb

Käufer von Investitionsgütern erwarten immer häufiger Einkaufserlebnisse, wie man sie aus dem Endkundengeschäft kennt. Sich als Unternehmen darauf einzustellen, bedeutet nichts weniger als einen Kulturwandel in den Vertriebsabteilungen – und weit darüber hinaus.

Bild: Accenture Dienstleistungen GmbH
Bild: Accenture Dienstleistungen GmbH

Das Fracht-Startup Flexport vereinfacht komplexe Sendungen per Web-Service, der Reifenhersteller Michelin vermietet Reifen ‘as-a-Service’: Neue Vertriebsansätze aus dem Business-to-Business-Geschäft erreichen auch die Industrieunternehmen – und revolutionieren dort Marketing, Vertrieb und Service. Rund-um-die-Uhr-Beratung, schnelle Reaktionszeiten, neue Bestell-und Bezahlverfahren werden üblicher. Ein Grund dafür ist die veränderte Erwartungshaltung vieler Industrieeinkäufer. Die erwarten nämlich zunehmend Einkaufs- und ‘Kundenerfahrungen’, wie sie sie von Alibaba, Amazon oder anderen Online-Händlern kennen. Und rund 81 Prozent von ihnen verhalten sich beim Beschaffen bereits genau wie beim privaten Einkauf: Erst online informieren, dann gezielt und mit spezifischen Anforderungen beim Hersteller mit dem kundenfreundlichsten, bequemsten und schnellsten Kunden-Erlebnis vorsprechen.

Neue Wege im Industrievertrieb

Für Industrieunternehmen bedeutet das: das Verhältnis zu Kunden und Einkäufern verändert sich. Websites und digitale Dienste werden wichtiger, dasselbe gilt für kanalübergreifende Betreuung und – vor allem – die gezielte, personalisierte Beratung. Wer weniger bietet, riskiert bei der Vergabe von Aufträgen außen vor zu bleiben. Entsprechend groß ist der Handlungsbedarf. Weil bewährte Ansätze wie Investitionen in Produktverbesserungen, Messe-Auftritte und den Außendienst in der digitalen Welt nicht mehr genügen, brauchen die Unternehmen neue: Analytics, Marketing-Automation, Customer-Relationship-Management (CRM), Webshops und Mobile-Apps rücken in den Mittelpunkt. Und selbst allerneueste Technologien wie Chatbots, Virtuelle Assistenten und ‘Robotics Process Automation’ für die Auftragsbearbeitung werden zum Thema – immer mit dem Ziel, Einkäufer noch zielführender, schneller und einfacher zu beraten und zu bedienen. Wer zukunftsfähig bleiben will, muss kundenorientierter werden.

Das Ziel: Kundenorientierung

Die meisten Industrie-Entscheider haben das bereits verstanden. Zumindest gehen einer Untersuchung von Accenture zufolge 84 Prozent aller Führungskräfte in der Industrie davon aus, dass eine stärkere Ausrichtung des eigenen Geschäfts auf Kundenerwartungen Wettbewerbsvorteile bringen würde. Zudem rechnen viele damit, dass entsprechende Ansätze und Verfahren die Interaktion mit Kunden und Partnern verbessern (85 beziehungsweise 76 Prozent) und zudem Kosten senken könnten (79 Prozent) – eine berechtigte Vermutung. Denn die Studie zeigte, dass Unternehmen mit überdurchschnittlicher Kundenorientierung mithilfe aktueller Marketing- und Vertriebsverfahren im Vergleich zum Wettbewerb eine bis zu vier Prozent höhere Ebit-Marge erzielten. Zudem verbessern eine stärkere Kundenorientierung und die Digitalisierung des Vertriebs den Return-on-Investment auf sämtliche Digital-Investitionen einer Firma. Das Spitzenfeld erzielte um 42 Prozent höhere Returns als die Unternehmen der Verfolgergruppe und sogar 100 Prozent mehr als die ‘Abgehängten’. Letztere verlieren beim Einsatz althergebrachter Verfahren sogar Geld. Doch was machen die Firmen aus dem Spietzenfeld eigentlich – und wie? Die Untersuchung liefert einige Antworten. Um sich im zunehmend digitalen Marktumfeld zu behaupten, investieren die Vorreiter vor allem in drei Bereiche: in den Einsatz digitaler Technik zur Umsatz- und Ertragssteigerung, in die Fähigkeit zum Vorwegnehmen und Übererfüllen von Kundenerwartungen und in die Planung und das Change-Management für die gezielte Reorganisation des Vertriebes.

Digital-Marketing und Analytics

Als wichtigste Voraussetzung für all das sehen die meisten Vorreiter den Aufbau neuer, unmittelbar zum Endkunden reichender Kanäle – und investieren entsprechend. Mehr als die Hälfte (je 55 Prozent) von ihnen setzen auf Web-Shops mit Self-Service-Features, die Kunden viel Entscheidungs- und Auswahlarbeit abnehmen und rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Die besten Shops bieten sogar eine grundlegende Beratung. Indem sie etwa ‘Guided Purchasing’ unterstützen. Hierbei fragt eine Shop-Software zunächst Bedarfsparameter ab und empfiehlt dann das am besten geeignete oder günstigste Produkt samt Alternative. Beratung kann auch über Chatbots erfolgen, die Kunden rund um die Uhr zu beraten. Vor allem aber digitalisieren die Vorreiter interne Abläufe und die Arbeit der eigenen Vertriebsmitarbeiter. 51 Prozent investieren zum Beispiel in digitales Marketing. Dazu gehört auch, Kunden-Präferenzen mittels Analytics zu ermitteln und Marketing-Kampagnen entsprechend zu steuern. Ähnlich viele Firmen nutzen Customer Relationship Management-Software, um ihr Kunden-Knowhow zu speichern und zu verwerten. Und einige rüsten Außendienstmitarbeitern bereits mit ‘Sales Pads’ genannten Mobilgeräten aus, damit diese jederzeit und überall Zugriff auf Vertriebs- und Kunden-Informationen haben, um Verkaufsgespräche bestmöglich auf das jeweilige Gegenüber zuschneiden zu können. Das ermöglicht es diesen Firmen, herausragende On- und Offline-Einkaufserfahrungen zu bieten, die die Erwartungen von Einkäufern oft sogar übertreffen. Weil viele der hierfür erforderlichen Abläufe im Zuge der Digitalisierung zusätzlich automatisiert werden, sparen sie außerdem Zeit und Kosten.

Per Algorithmus ausgerechnet

Doch die Unternehmem im Spitzenfeld der Umfrage gehen noch weiter: Sie nutzen ihre digitalisierten Schnittstellen zum Kunden auch, um ein möglichst umfangreiches Bild von deren Bedürfnissen und Präferenzen zu erhalten. Ziel ist ein ganzheitliches Verständnis vom ‘Lebenszyklus’ einzelner Kunden, einschließlich aller Interaktionspunkte – von der Erstansprache über Angebot, Bestellannahme und Auslieferung bis hin zum After Sales-Service. Dafür setzen die Firmen einerseits auf Verfahren zur Erkenntnisgewinnung. Etwa auf Design Thinking-Workshops, in denen einzelne Arbeitsschritte und Entscheidungen von Einkäufern und Webshop-Nutzern nachvollzogen werden, oder auf so genannte ‘day-in-the-life-of’-Projekte: Dabei spielen Mitarbeiter der Marketing-Organisation selbst ein- oder mehrere Tage lang Einkäufer, und untersuchen die firmeneigenen Abläufe so auf Schwachstellen. Die am weitesten fortgeschrittenen Organisationen investieren aber natürlich auch in digitale Technologien zur vorausschauenden Auswertung digitaler Daten – Business Insights- oder sogar Big Data-Analytics-Software – um den Erkenntnisgewinn zu beschleunigen und zu verstetigen. Allerneueste Technologien wie Maschine Learning erkennen hierbei oft bisher gänzlich unbekannte und ungenutzte Muster und Zusammenhänge. Beide Arten der Investition unterstützen die Vorreiter dabei, Kundenerlebnis, Produkte und Dienstleistungen laufend zu verbessern. Sie ermöglichen aber auch, bestimmte Bedürfnisse und Präferenzen von Kunden vorherzusagen, bevor die Kunden diese selbst ‘bemerken’. Damit können die Firmen neue Produkte und Lösungen schneller und zielgerichteter entwickeln und vermarkten als der Wettbewerb.

Bild: Accenture Dienstleistungen GmbH
Die Digitalisierung der Customer Journey und die Berührungspunkte. Bild: Accenture Dienstleistungen GmbH

Kulturwandel im Vertrieb

Für Marketing-, Vertriebs- und Serviceorganisationen bedeutet all dies zusammengenommen eine Revolution. Alte Arbeitsabläufe werden überflüssig, neue erforderlich – und die Anforderungen an Mitarbeiter verändern sich von Grund auf. Vorreiter-Unternehmen respektieren dies. Sie verstehen die Digitalisierung des Vertriebs als Kulturwandel und bemühen sich sehr früh um eine entsprechende Entwicklungsplanung sowie umfassendes Change-Management. Statt nur in die Reorganisation von Abteilungen und Fachbereichen zu investieren, bezahlen sie auch für die Entwicklung neuer Governance-Richtlinien, die gezielte Entwicklung von Führungs- und Fachkräften und die interne Vermittlung von Notwendigkeit, Hintergründen und Verlauf des Umbaus. Beim Umsetzen der entsprechenden Veränderungen verfolgen die Vorreiter zudem häufig einen ‘top-down’-Ansatz: 37 Prozent übertragen die Verantwortung für Digitalisierung und Reorganisation von Kundenerfahrung, Marketing und Vertrieb einem Mitglied von Vorstand oder Geschäftsführung, der unmittelbar für Werbung und Verkauf verantwortlich ist; 22 Prozent übergeben das Thema einem anderen Vorstand oder Geschäftsführer, der dann aber mit den Fachbereichen zusammenarbeitet.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Herkömmlich aufgestellte Vertriebs- und Marketingorganisationen müssen ihr Verhältnis zum Kunden also komplett überdenken – und bewährte Sicht- und Arbeitsweisen in Frage stellen. Dazu gehört außer dem Erlernen einer ‘digitalen’ und kundenorienteierten Haltung meist auch das Reorganisieren der eigenen Arbeitsbereiche und das Erlernen neuer Fähigkeiten. In Firmen, die ihren Vertrieb über Channel-Partner organisieren, kommt hierzu noch die Neu-Organisation der entsprechenden Partnerlandschaft. Auf die Verantwortlichen wartet also eine Menge Arbeit. Doch die dürfte sich in jedem Falle rechnen. Denn die ‘Konsumerisierung’ der Industrie birgt enorme Chancen. Unternehmen, die ihre Abläufe stärker auf Kunden und ihre Erwartungen ausrichten, könnten sich im Erfolgsfall vom Wettbewerb abgrenzen, zusätzlichen Umsatz erschließen und die Kunden-Treue erhöhen.