Bereit für neues Denken

Hürden auf dem Weg zur Industrie 4.0

Industrie 4.0 und die dafür erforderliche Vernetzung der Wertschöpfungsketten sind zentrale Themen in der deutschen Fertigungsindustrie. Doch sieben Jahre nach der öffentlichen Bekanntmachung der Hightech-Strategie 2020 der Bundesregierung auf der Hannover Messe 2011 sind die meisten bekannten Anwendungen noch Testapplikationen und Pilotprojekte. Die Gründe für dieses Tempo beeinflussen sich oft wechselseitig – und reichen teils bis in die Führungsebene.

Bild: © zapp2photo/Fotolia.com
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Die digitale Transformation des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wird Strukturen und Prozesse nachhaltig verändern. In der Fertigungsindustrie hat dieser Umbruch sogar einen eigenen Namen bekommen: Industrie 4.0. Die Vision dahinter umfasst die Echtzeit-Datenübertragung entlang der gesamten Wertschöpfungskette und damit eine vertikale und horizontale Vernetzung sowie die Digitalisierung des gesamten Produktlebenszyklus durch Cyber-physische Systeme. Hinzu kommen die Integration von Sensoren sowie die Aktoren Maschine-zu-Maschine und Mensch-zu-Maschine. Die neue Produktionstechnik und die IT-basierten Lösungen versprechen den Unternehmen mehr Produktivität und Effizienz bei geringerem Ressourcenverbrauch, was wirtschaftliches Wachstum schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit sichern soll. Ungeachtet des Potenzials in diesen Ansätzen steht die deutsche Industrie vor Herausforderungen. Das zeigt sich gerade daran, dass Industrie 4.0-Anwendungen in der Fertigungsindustrie nur begrenzt zu finden sind, wie eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie von Bitkom Research im Auftrag von Ernst & Young ergab. Nach sieben Jahren Diskussionen über das Konzept einer Industrie 4.0 betreiben die Hersteller nur wenige konkrete Testanwendungen und Pilotprojekte. Zwar sind Industrie 4.0-Technologien gefragt und das Interesse in der Branche ist groß, an die Umsetzung der Projekte wagen sich bislang nur wenige Unternehmen. Die Gründe dafür sind so zahlreich wie vielfältig. Besonders häufig werden Aspekte der Finanzierung, der Mangel an IT-Fachkräften, fehlende Standards und rechtliche Regularien sowie die IT-Sicherheit diskutiert. Um die wirklich unmittelbaren Hürden für die Umsetzung von Industrie 4.0-Projekten aus Sicht der Praxis zu ermitteln, wurden 13 Experten von Industrieverbänden, in Führungspositionen bei Fertigungsunternehmen und IT-Beratung befragt. Zwei Faktoren mit starken Wechselwirkungen untereinander stachen dabei hervor:

  • die hohe Komplexität des Konzeptes sowie
  • psychologische Vorbehalte in den Führungsebenen der Produzenten.

Ursache und Wechselwirkungen

Dem Konzept Industrie 4.0 fehlen umfassende Systemstandards, die zu einem Mangel an Interoperabilität in der Fertigungsindustrie führen. Durch die zunehmende Internationalisierung der Wertschöpfungskette werden Standards jedoch auch in Zukunft eine große Herausforderung bleiben. Zwar wurde in Zusammenarbeit mit der Plattform Industrie 4.0 durch das Deutsche Institut für Normung (DIN) ein Standard für das Referenzarchitektur Modell Industrie 4.0 (RAMI4.0) veröffentlicht. Bislang ist die daraus resultierende Norm DIN SPEC 91345 jedoch noch nicht vollständig international anerkannt und zielt zudem eher auf ein einheitliches Verständnis des Themas Industrie 4.0 mit den beteiligten deutschen Akteuren ab. Also gibt es derzeitig keine EU-weit einheitlichen oder gar internationalen Systemstandards. Zudem sind viele der bestehenden Anlagen im Maschinenpark deutscher Fertiger noch nicht netzwerkfähig. Da eine technisch durchaus mögliche Nachrüstung mit enormen Kosten verbunden ist, nehmen die meisten Unternehmen – gerade kleine und mittlere Unternehmen – Abstand von dieser Investition. Den Maschinenpark gleich ganz auszutauschen, ist aus den selben Gründen in aller Regel unrealistisch. Mit der weitreichenden Vernetzung samt enormen Datentransfers auf Werksebene steigt zudem das Risiko von Lücken in der IT-Sicherheit. Daraus resultiert eine allgemein eher restriktive Haltung der Unternehmen, zumal viele Fragen in Bezug auf das Recht, die Sicherung von Knowhow und die Freigabe sensibler Produktionsdaten noch zu klären sind.

Validierung von Daten

Umfassend vernetzte Wertschöpfungsketten erfordern die unternehmensübergreifende Datenübertragung quasi in Echtzeit. Erst mit der Validität der komplexen Daten erlangen auch die erfassten Informationen Gültigkeit. Der Fachkräftemangel im Bereich der Informatik und Datenanalyse erschwert jedoch die zielgerichtete Analyse der gesammelten Daten und angewandten Systeme stark. Den Unternehmen fehlt daher oft eine umfassende Implementierungsstrategie, welche den oben genannten Punkten Rechnung trägt und zu einer sicheren und praktikablen Anwendung von Industrie 4.0-Technologien beiträgt.

Vernetzung der Wertschöpfungsketten - Hürden auf dem Weg zur Industrie 4.0
Bild: Shutterstock / Elenabsl

Vorbehalte entstanden

Das Zusammenspiel aller Aspekte – hier zusammengefasst als Komplexität – führt häufig zu erheblichen psychologischen Vorbehalten bei Entscheidungsträgern. Diese äußern sich zuweilen in einer generellen Zurückhaltung gegenüber den technischen Anwendungen im Kontext von Industrie 4.0 und der fehlenden Bereitschaft, sensible Verarbeitungsdaten für die Vernetzung in der gesamten Wertschöpfungskette bereitzustellen.

Ausblick und Anforderungen

Die deutsche Fertigungsindustrie sollte dringend aktiv werden, um den Anschluss an die Weltspitze und ihre Position als eine der führenden Fabrikausrüsterinnen zu bewahren und an die Erfolge der Vergangenheit anzuknüpfen. Dies erfordert allerdings ein breit angelegtes unternehmerisches Umdenken und die Bereitschaft, innovative Technologien zu entwicklen, einzusetzen und die eigenen Unternehmensgrenzen für einen übergeordneten Datentransfer zu öffnen. Hierzu bedarf es ganzheitliche Implementierungsstrategien sowie viele Fachkräfte im Bereich IT und Data Science. Die hohe Komplexität des Konzeptes Industrie 4.0 und die Menge an in Echtzeit transferierten Daten wird andernfalls kaum zu bewerkstelligen sein. Ob und in welchem Zeitraum sich die Industrie tatsächlich flächendeckend die Versionsnummer 4.0 geben kann, bleibt somit offen. Gleichwohl ist die Mehrzahl der befragten Experten überzeugt, dass die hiesige Fertigungsindustrie die Herausforderungen bewältigen wird. Festzuhalten bleibt daher, dass der zukünftige Erfolg der deutschen Produzenten maßgeblich von der Fähigkeit abhängt, die auf dem Weg zur Industrie 4.0 notwendigen Veränderungen der Strukturen und technologischen Prozesse zeitnah zu adaptieren und ins Produktionsumfeld zu integrieren.


Burkhard Röhrig, Geschäftsführer beim MES-Hersteller GFOS mbH

Burkhard Röhrig, Geschäftsführer beim MES-Hersteller GFOS mbH:

„Maschinen werden Handelsware und austauschbar”

Der Hersteller von Manufacturing Execution-Systemen GFOS weiß aus erster Hand, wie digital es in deutschen Fabriken zugeht. Passend zum 30. Geburtstag der Essener Firma haben wir Geschäftsführer Burkhard Röhrig zum Stand der digitalen Transformation befragt.

Herzlichen Glückwunsch zum 30. Firmenjubiläum. Was sind die wichtigsten Erfahrungen, die Sie in den letzten drei Jahrzehnten gemacht haben?

Burkhard Röhrig: Vielen Dank! 30 Jahre sind natürlich eine lange Zeit und es gab viele wichtige Erfahrungen, Entwicklungen und Meilensteine. So haben wir viele interessante Kunden mit spannenden Projekten gewinnen können. Mit fast allen Kunden verbindet uns eine sehr langjährige Partnerschaft. Die technischen Voraussetzungen und Umgebungsbedingungen haben sich in den vergangenen 30 Jahren sehr verändert und es war schon zum Teil eine Herausforderung, hier immer vorn dabei zu sein. Besonders wichtig aber sind unsere Mitarbeiter, die uns begleitet und geprägt haben. Als unbekanntes Startup-Unternehmen, das wir anfangs waren, was es schon schwieriger, Kunden und Mitarbeiter zu gewinnen. Allen voran möchte ich deshalb meine Frau, Gunda Cassens-Röhrig, erwähnen, die genau ein Jahr nach Gründung ins Unternehmen eingetreten ist – am 1. April 1989. Ab dem zweiten Jahr ihrer Anstellung hat sie die komplette Produkt- und Serviceverantwortung im Workforce-Bereich übernommen. Das war ein wichtiger Meilenstein, denn so konnte ich mich schwerpunktmäßig auf den industriellen Part konzentrieren.

Wie sehen Sie als Anbieter einer MES-Lösung den aktuellen Stand von Industrie 4.0?

Röhrig: Wie Sie im vorangegangen Artikel lesen können, gibt es bezogen auf Industrie 4.0 einige hemmende Faktoren und wir sind in Deutschland lange nicht so weit, wie wir sein sollten. Dennoch sind die Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 omnipräsent – in den Medien, in Unternehmen und auch im privaten Bereich. Denn die Digitalisierung verändert alle gesellschaftlichen Bereiche dramatisch, so natürlich auch die produzierende Wirtschaft. Insbesondere der Maschinenbau wird sich den Herausforderungen schnellstens stellen müssen, will er seine in vielen Bereichen bestehende Produktführerschaft behalten. Denn das Schlagwort Industrie 4.0 bedeutet einen Paradigmenwechsel für die deutsche Maschinenbau- und Fertigungsindustrie. Produktionsstraßen werden nicht länger von Applikationen abgeschnitten sein und einen manuellen Bestellprozess notwendig machen. Im Gegenteil: Sie werden ein integraler Bestandteil des Netzwerks sein. Einzelne Maschinen werden zur Handelsware und austauschbar. Dies wird dazu führen, dass zukünftig nicht mehr die Maschine selbst, sondern die Leistung und Verfügbarkeit einer Maschine verkauft wird. Hiermit ändert sich die Geschäftsgrundlage für den Maschinenbau gravierend und das Thema Machine Learning wird umso wichtiger.

Was verstehen Sie unter Machine Learning und welchen Nutzen hat die Technik?

Röhrig: Machine Learning bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes maschinelles Lernen. Als Weiterentwicklung der Mustererkennung im Bereich der künstlichen Intelligenz befasst sich Machine Learning mit komplexen Algorithmen, die von Daten lernen und Vorhersagen über sie treffen können. Solche Algorithmen folgen nicht einfach streng definierten Programmvorgaben, sondern treffen datengestützte Vorhersagen, indem sie auf Basis von Beispielen Wissen generieren, also lernen. In der Industrie basiert maschinelles Lernen auf vielen Daten, die mittels Sensorik, Cyber-physical Systems und natürlich Software erfasst werden. Machine Learning entwickelt aus den Daten Informationen, die die Produktion effizienter und planbarer machen. Bei der vorausschauenden Instandhaltung wird der Nutzen besonders deutlich: Auf der Grundlage gewonnener Informationen lassen sich prospektivisch aufkommende Probleme an einer Maschine diagnostizieren und planbar beheben, bevor die Störung eintritt.

Wie weit ist der Maschinenbau in diesem Bereich?

Röhrig: Obwohl die Vorteile klar auf der Hand liegen, herrscht in einigen Maschinenbauunternehmen noch Unsicherheit darüber, ob es sich bei Machine Learning um ein geschäftsrelevantes Thema handelt. Ansätze hierzu liegen aber sowohl in der Optimierung der eigenen Prozesse als auch im Erhalt und in der Erweiterung der Produktinnovationsführerschaft. Es besteht also ganz klar Handlungsbedarf!

Geschäftsführer Burkhard Röhrig von GFOS im Interview | Bild: © GFOS / Catrin Moritz







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