MES-Einführung bei Ottobock: Werker haben die Kontrolle

Bild: Top Flow GmbH

1909 gegründet, vertreibt der Orthopädietechnik-Spezialist Ottobock seine Lösungen heute weltweit. Damit dies auch so bleibt, setzt das Unternehmen auf Innovation, hohe Qualitätsstandards und eine moderne Produktion. Die Fertigung ist jedoch komplex: ein breites Angebotsportfolio trifft auf die Notwendigkeit, die Produkte gegebenenfalls spezifisch auf die späteren Nutzerinnen und Nutzer anzupassen.

Hinzu kommt, dass die Produktion üblicherweise mehrstufig organisiert ist und aus unterschiedlichsten Fertigungsverfahren besteht. So entstehen zunächst sogenannte Passteile. Diese Komponenten werden dann von Orthopädiemechanikern individuell zusammengesetzt, etwa zu Prothesen. Zusätzlich verfügt Ottobock auch über eine eigene Endmontage für stärker standardisierte Produkte. Der Umfang der Losgrößen variiert von fünf bis zu 1.000 Werkstücken pro Fertigungsauftrag.

Um diese Produktion zu organisieren, nutzte das Unternehmen bis vor Kurzem verschiedene Module und Features der ERP-Software SAP ECC 6.0 inklusive der Erweiterung EHP 8. Ein ganzheitliches Manufacturing Execution System (MES) existierte bis dato nicht. „Insbesondere bei der Komponentenproduktion bestanden hier große Defizite – auch, weil diese bisher eher handwerklich geprägt war. Gleichzeitig entstand durch den zunehmenden Wettbewerb aber ein immer größerer Druck, kosteneffizienter zu produzieren“, sagt Thomas Einecke, Business Process-Spezialist bei Ottobock. „Daher wollten wir für die Passteile-Fertigung endlich eine moderne Lösung, die alle wichtigen Informationen in digitaler Form erfasst und zur Verfügung stellt. Diese sollte sich zudem möglichst nahtlos in unsere bestehende SAP-Landschaft einfügen.“

Bild: Top Flow GmbH

MES in SAP integriert

Die Verantwortlichen bei Ottobock stießen auf das SAP Add-on Top MES des IT-Spezialisten Top Flow. Dieses überzeugte den Duderstädter Medizintechnikhersteller durch Funktionalitäten wie etwa der hundertprozentigen Integration in SAP, der Möglichkeit, Betriebs- und Maschinendaten zu erfassen und diese als Grundlage für die Overall Equipment Effectivness (OEE) zu nutzen sowie der Option, einen digitalen Werkerdialog zu etablieren. „Zudem sprach für Top Flow, dass wir bereits deren Reporting- und Analysetool top SE16XXL einsetzten“, sagt Einecke.

Rollout zunächst im Stammwerk

Ein gemeinsames Projektteam skizzierte zunächst, wie der Shopfloor bei der Komponentenfertigung künftig organisiert sein sollte – anfänglich ausgerichtet auf das Stammwerk in Duderstadt. Zudem eruierten die Mitgleider, wo individuelle Software-Anpassungen nötig waren. „Dabei stellte sich heraus, dass wir unter anderem für die Anbindung unseres Qualitätssicherungssystems von AHP an das MES noch neue Schnittstellen konzipieren mussten“, sagt Patrick Ehlers, Projektmanager und Key-User bei Ottobock.

In einem Jahr digitalisiert

Innerhalb eines Jahres gelang es, die Komponentenproduktion zu digitalisieren. Zu den Neuerungen gehören beispielsweise:

• Eine digitalisierte Werkerführung: Zettel und Papier benötigen die Beschäftigten auf dem Shopfloor heute nicht mehr. Das Unternehmen hinterlegt die aus der Produktionsplanung abgeleiteten Arbeitsvorräte unmittelbar im MES. An den mit Terminals ausgestatteten Arbeitsplätzen können sich die Mitarbeiter dann frei aus diesem Arbeitsvorrat bedienen. Das System unterstützt sie, indem es alle für den nächsten Fertigungsschritt notwendigen Produktionsunterlagen anzeigt, etwa einschlägige technische Zeichnungen, Produktspezifikationen oder eine Deadline. Auch die Steuerung zwischen einzelnen nachgeordneten Produktionsstufen ist nun weitgehend automatisiert. Dies erfolgt über ‚machbare‘ Arbeitsvorräte. Der Werker eines nachgelagerten Fertigungsschrittes kann so erst mit der Weiterverarbeitung beginnen, sobald das System diesen freigibt. Damit dennoch keine Leerläufe entstehen, können sich die Werkerinnen und Werker frei an den weiteren ‚machbaren‘ Arbeitsvorräten bedienen. Die Produktionssteuerung erfolgt somit über ein Pull-System, bei dem die Beschäftigten die Kontrolle über die Feinsteuerung behalten.

• Digitale Services zur Werkerunterstützung: Das MES bietet zudem weitere Arbeitserleichterungen. Sofern Maschinen ausfallen, können Werker dies digital beim Meister melden. Im Gegensatz zur Ausgangssituation müssen sie den Meister bei Störungen somit nicht mehr aktiv suchen. Zudem können die Werker über das MES vom Arbeitsplatz aus Kanban-Prozesse auslösen und so zusätzliches Verbrauchsmaterial ordern – etwa dann, wenn Mehrbedarf durch erhöhten Ausschuss besteht.

• Management-Dashboards zur Optimierung des Shopfloors: Für die gezielte Steuerung und kontinuierliche Verbesserung der Produktionssteuerung implementierte das Projektteam verschiedene Dashboards, die wichtige Kennziffern zur Maschinenauslastung, zu Ausfall- und Belegungszeiten, Mehrverbräuchen oder Störungen abbilden. „Insgesamt wird die Produktion dadurch deutlich transparenter. Die Kennzahlen kann das Controlling zudem nutzen, um übergeordnete Größen wie die OEE zu bestimmen“, erläutert Einecke.

Fehler eliminieren

Seit dem Go-Live im März 2022 gelang es Ottobock, die Auslastungen zu optimieren, Kosten zu senken und gleichzeitig die Qualität zu steigern. Die neuen Kennzahlensysteme unterstützen zudem dabei, gängige Fehlerquellen künftig schneller zu erkennen und so schrittweise zu eliminieren.

Das Unternehmen plant bereits den Rollout für weitere Standorte. „Als nächstes wollen wir das System in unserem Werk in Bulgarien einführen. Langfristig soll aber jedes Werk vom digitalisiertem Shopfloor profitieren“, sagt Thomas Einecke.

Autor: Bastian Schwengers, Top Flow GmbH, www.top-flow.de







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