Lean und Industrie 4.0

Getaktet wie beim Ski fahren

Viele Unternehmen haben mit umgesetzten Lean-Prinzipien enorme Verbesserungen bei Qualität, Durchlaufzeit, Mitarbeiter- und Flächenproduktivität erzielt. Nun prasselt auf die Fertigungsbetriebe die Industrie 4.0-Botschaft ein: Informationstechnik soll die gesamte Produktion durchdringen, um Transparenz in die Steuerung zu bekommen – ein Zielkonflikt?

Bild: ©Jag_cz/istockphoto.com
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Für Unternehmen ist es in der Tat erst einmal ein Handlungsdilemma. Denn die Anforderungen der Lean Philosophie und von Industrie 4.0 sind teilweise gegenläufig. Es ist in der Praxis zu beobachten, dass viele Unternehmen, die bei der Lean Einführung bereits sehr weit waren, nun eine ‚Rolle rückwärts‘ vollziehen. Komplett EDV-frei gesteuerte, minimale Shopfloorbestände werden plötzlich wieder mit enormem Mehraufwand gescannt, nur damit die Daten in einem EDV-System vorhanden sind. Es wird wieder um jeden Preis automatisiert. Was sich in der Vergangenheit oft als Fehler erwies, wird unter dem Vorzeichen Industrie 4.0 wiederholt. Eine mögliche Lösung dieser Zielkonflikte könnte der Ansatz ‚Lean vor Industrie 4.0‘ sein. Zunächst sollten alle Prozesse und Strukturen eines Unternehmens der Lean-Philosophie entsprechend optimiert und erst im einem Folgeschritt ermittelt werden, welche Industrie 4.0-Technologien diesen Ansatz sinnvoll unterstützen können.

Die acht Grundprinzipien

Bei der Prüfung stehen die acht Grundprinzipien von Lean im Vordergrund: Fluss, Takt, Standard, Pull, Integration, Synchronisation, Perfektion und Robustheit. Um dies zu verdeutlichen, soll auf eine Analogie zurückgegriffen werden, bei der man sich die zwei Produktionssysteme – Lean Production und die klassische Massenproduktion – als zwei Skigebiete vorstellen kann. Beide Skigebiete haben die gleiche Kapazität. Es sollen 1000 Personen pro Stunde nach oben transportiert werden können. Das eine Skigebiet verfügt über eine Seilbahn mit einer 100-Personen-Gondel, die alle sechs Minuten fährt, das andere über einen 8er-Sessellift mit einer 30-Sekunden-Frequenz. Die meisten werden sich vermutlich für jenes mit dem 8er-Sessellift entscheiden, also für das Prinzip Fluss. Denn hier wird zum einen das Gefühl vermittelt, dass es schneller vorangeht. Zum anderen kommen oben im Skigebiet kontinuierlich alle 30 Sekunden acht Personen an, die sich recht schnell auf der Piste verteilen. Bei der 100-Personen-Gondel kann es jedoch passieren, dass man sechs Minuten in der Kabine warten muss, bis man losfährt. Oder es geht gleich los, wenn man zufällig als einer der letzten einsteigt. Ein weiteres Problem ist, dass dann oben auf der Piste 100 Personen gleichzeitig aussteigen und es wesentlich länger dauert, bis sich alle auf die Piste verteilt haben. Auf die Gestaltung von Unternehmen übertragen bedeutet Fluss unter anderem eine möglichst geringe Transportlosgröße und kleine Behälter mit geringen Inhaltsmengen, die häufig transportiert werden, um das Material im Fluss zu halten. Die kostenorientierte Betrachtungsweise fällt hingegen eher zugunsten der 100er-Gondel aus, also der selteneren Fahrt, die die Kosten auf mehr transportierte Objekte verteilt.

Die Abfahrt takten

Nun zur Abfahrt – auf Unternehmen übersetzt zur Produktion. Unser Skifahrer hätte am liebsten die gesamte Piste für sich allein, sodass er ohne Unterbrechung bis ins Tal hinabfahren könnte. Da es eher unwahrscheinlich ist, dass dieser Fall eintritt, wird ein weiteres Grundprinzip angewendet, nämlich der Takt. Wir lassen die Skifahrer mithilfe einer Ampel im Abstand von 50 Meter starten und hintereinander herfahren. So hat jeder von ihnen das Gefühl, die Piste für sich allein zu haben. Damit das funktioniert, müssen die Skifahrer allerdings ungefähr gleich schnell fahren. Dieses Prinzip wird als Standard bezeichnet. Ihrem Können entsprechend werden den Skifahrern unterschiedliche Pisten zugewiesen, für die Anfänger, die Fortgeschrittenen und eventuell für die Snowboarder. Im Unternehmen bedeutet das eine Produkt- und Produktionssegmentierung und darauf basierend eine Ressourcentrennung. Jede Produktgruppe sollte eigene Ressourcen nutzen, um ein einfach zu steuerndes System mit kurzen Durchlaufzeiten zu bekommen. Gleiches gilt für die Produkte in einer getakteten Linie. Jedes Produkt wird ohne Unterbrechung fertig bearbeitet und hat für sich die kürzestmögliche Durchlaufzeit.

Pull-Prinzip bei Störungen

Was passiert bei Störungen im System? Hierfür wird das Prinzip Pull genutzt. In der Skigebiet-Analogie kann man sich den Pull-Mechanismus wie eine Lichtschranke vorstellen, die mit der Ampel zur Taktung verbunden wird. Der nächste Takt kann nur ausgelöst werden, wenn die Lichtschranke meldet, dass der vorherige Fahrer die Piste passiert hat und diese frei ist. Im Unternehmen wird dies als Jidoka, die ‚Kultur des Anhaltens‘ bezeichnet. Treten Störungen auf, muss das System so lange angehalten werden, bis die Fehlerursache behoben ist. Damit wird zum einen die Produktion von Ausschuss und zum anderen der Aufbau von Bestand verhindert. Bestand verlängert die Durchlaufzeit und macht Systeme unsteuerbar.

Den kurzen Weg nehmen

In einem gut organisierten Skigebiet liegen die Einstiege in Lifte zu höheren Niveaus unterhalb des Ausstiegs des unteren Liftes. So gelangen die Skifahrer ohne Kraftanstrengung und schnell zum nächsten Lift. Im Unternehmen lässt sich dies als Lean-Grundprinzip der Integration illustrieren. Es geht um kurze Wege, materialflussorientierte Strukturen und eine weitgehende Vermeidung beziehungsweise gute Gestaltung von Schnittstellen. Zurück zur Piste: Bringt von unten ein moderner 8er-Lift viele Skifahrer nach oben, wird es zu Stauungen kommen, wenn dort nur eine langsame 2er-Sesselbahn den Weitertransport übernimmt. Hier sollte ein weiteres Prinzip, die Synchronisation, angewendet werden. Umgemünzt auf Unternehmen heißt es vor allem aufeinander abgestimmte Ressourcen, Kapazitäten und Schichtmodelle, zum Beispiel ähnliche Geschwindigkeiten aufeinanderfolgender Maschinen, gleiche Schichtmodelle über aufeinanderfolgende Produktionsbereiche und vieles mehr. Unsynchronisierte Abläufe führen zu Stauungen und Beständen. Das siebte systemische Grundprinzip ist die Perfektion, die im Kern die ’sofortige Fehlerbehebung am Ort der Entstehung‘ bedeutet. Es darf kein fehlerbehaftetes Erzeugnis weitergegeben werden. Nur so wird ein Feedback und ein Lernen innerhalb der Organisation erreicht. Sind alle diese Prinzipien erfüllt, erreicht man das achte Grundprinzip Robustheit. In einer Welt, die immer schwieriger vorhersagbar wird, ist die Gestaltung weniger anfälliger Systeme, die nicht auf Volatilität reagieren, besonders wichtig. Für ein robustes System spielen Unordnung und Schwankungen keine Rolle. Dies gilt sowohl für das Skigebiet als auch für Unternehmen.

Neue Technik kommt hinzu

Mit der Entwicklung in Richtung einer Industrie 4.0 etabliert sich neue Technik im Produktionsumfeld. Hier dient die Sensorik als Beispiel. In der Skigebiet-Analogie bedeutet das beispielsweise, alle Pisten und auch angrenzende Hänge mit Sensoren zu versehen, die die Schneehöhe und -beschaffenheit, Temperatur und so weiter überwachen. Damit könnten einerseits den Skifahrern Informationen über den Zustand der Pisten übermittelt werden, aber auch Pistenraupen und Beschneiungsanlagen könnte man vorausschauender und gezielt steuern. Diese Informationen würden hauptsächlich helfen, Verschwendung zu vermeiden – beispielsweise durch schlechte Pisten verursachte Wartezeit oder Überproduktion von künstlichem Schnee am falschen Ort. Zudem könnten die erhobenen Daten für die Bewertung der Lawinengefahr oder für die Notwendigkeit für Pistensperrungen nützlich sein. Im Bezug auf den Produktionsprozess bedeutet dies, dass Bestände besser überwacht und gezielt hochgefahren sowie Personal- und Maschinenkapazitäten früher und genauer geplant werden könnten. Auch die Skifahrer, also die Kundenaufträge, könnten in einem weiteren Schritt mit Sensoren ausgestattet werden. So wäre jederzeit bekannt, wo sich die Skifahrer befinden und wie schnell sie sich gerade bewegen. Hieraus ließen sich interessante Schlüsse aufgrund von Bewegungsmustern ziehen und für die kurzfristige Steuerung nutzen. Bekäme der Skifahrer beispielsweise aktuelle Infos über Stauungen bei bestimmten Liften oder auf den Hütten in seine Skibrille eingeblendet, so könnte er seine Route entsprechend anpassen, um Wartezeiten zu vermeiden. Auf eine reale Produktion übertragen wird häufig davon gesprochen, dass sich das Produkt selbst den Weg durch die Produktion sucht. Dieses Bild führt vielleicht etwas zu weit. Vielmehr geht es darum, dem Kundenauftrag auf dem Weg durch die Produktion dezentral auf Basis von vorgegebenen Randbedingungen einen gewissen Optimierungsspielraum zu geben. Sollten mehrere Ressourcen wie Maschinen zur Verfügung stehen, die nicht in einen Fluss integrierbar sind, könnte sich der Kundenauftrag an der Ressource mit der geringsten Wartezeit einreihen. Zu begrüßen und richtig ist aus Lean-Sicht jedenfalls die Tendenz, den Kundenauftrag als wichtigstes Optimierungskriterium für den Produktionsdurchlauf zu sehen und nicht mehr die Auslastung einzelner Ressourcen. Diese sind nur noch das Resultat und werden (außer am Engpass) nicht mehr aktiv geplant. Dies entspricht absolut der Lean-Philosophie.