Mit über 5.500 Testfällen zur FDA-Zulassung

Digitale Signaturen in der Medizintechnik

Die Dosimetrielösungen des Freiburger Medizintechnikunternehmens PTW sorgen in Bestrahlungsanlagen dafür, dass diese ihre Wirkung millimetergenau dort entfalten, wo die Mediziner es definiert haben. Auf Basis von PTC Creo und Windchill hat PTW mit seinem Softwarepartner Inneo einen digitalen, validierten Entwicklungsprozess implementiert, der die Auflagen der amerikanischen Regulierungsbehörde FDA erfüllt.

 (Bild: PTW)
(Bild: PTW)

Professor Wilhelm Hammer forschte zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Physikalischen Institut der Universität Freiburg und entwickelte dort ein revolutionäres Gerät: Das Hammer-Dosimeter. Es basiert auf einem elektrostatischen Relais, mit dem sich extrem kleine Ströme messen lassen. Im Jahr 1922 gründet er die Physikalisch-Technischen Werkstätten PTW und entwickelt auf Basis seines Dosimeters Geräte, um Strahlung in medizinischen Anwendungen zu messen. Hammer war Doktorvater von Dr. Herbert Pychlau, der das Unternehmen im Jahr 1927 übernahm. Dr. Christian Pychlau leitet gemeinsam mit Dr. Tobias Schüle das Unternehmen in dritter Generation, das inzwischen über 400 Mitarbeiter beschäftigt. Bis heute basieren die Dosimeter von PTW auf Hammers Idee, die winzigen Ströme, die von der Strahlung durch Ionisierung in einem Messmedium erzeugt werden, zu messen und daraus die Intensität der Strahlung zu bestimmen. Dies erfordert hohe Präzision und Aufmerksamkeit in Konstruktion und Herstellung.

Gesundes Gewebe schonen

Ziel einer Bestrahlung ist es, in einen Tumor so viel Strahlung einzubringen, dass die Tumorzellen absterben. Dabei sitzen die Tumore meist irgendwo im Körperinnern und sind von gesunden Organen und gesundem Gewebe umgeben. Daher werden Patienten so positioniert, dass Bestrahlungsgeräte den Tumor aus allen Raumrichtungen gezielt bestrahlen können. Dabei wird nicht nur die Strahlendosis, sondern beispielsweise auch die Feldgröße und die Feldgeometrie der Bestrahlung kontinuierlich angepasst, um das Tumorgewebe maximal zu schädigen und nicht die angrenzenden Organe. Vor der Behandlung definiert ein Medizinphysiker den Bestrahlungsbereich nach Angaben des Arztes und anhand von CT-Aufnahmen. Die PTW-Produkte kommen in der Strahlentherapie einerseits zum Einsatz, um zu prüfen, ob die Bestrahlungsanlage genau den gewünschten Bereich in der zuvor berechneten Dosis bestrahlt. Andererseits werden PTW-Produkte eingesetzt, um eine Qualitätssicherung der Bestrahlungsanlagen selbst durchzuführen.

Dreidimensionale Messfelder

Die Geräte bestehen häufig aus einem sogenannten Phantom, das den menschlichen Körper simuliert – im Falle der fahrbaren Beamscan-Geräte ist dies ein Wassertank. In diesem Wassertank lässt sich der Detektor dreidimensional verfahren. Von der Ionisationskammer des Detektors werden die beschriebenen winzigen Ströme über Kabel zum eigentlichen Messgerät geleitet. Dort nimmt eine elektronische Steuerung die Messergebnisse in Abhängigkeit von der Detektorposition auf, so dass ein dreidimensionales Messfeld entsteht. In der Octavius-Reihe wird ein Array mit über tausend Messfeldern genutzt, die sich in ein Festkörperphantom einbauen und im Strahlengang positionieren lässt. Eine Vielzahl weiterer Bauformen und Messgeräte ergänzen das Angebot für weitere Anwendungsfälle.

Dokumentation gefordert

Bei den extrem kleinen Strömen hat jeder Bestandteil der Anlage – vom Detektor über die Kabel und Steckverbinder bis hin zu den Elektrometern – großen Einfluss auf das Messergebnis. Jede Änderung an einem Bauteil oder Fertigungsprozess kann das Messergebnis verfälschen, weshalb jeder Schritt genau überprüft und dokumentiert wird. Diese Dokumentation wird auch von den Regulierungsbehörden gefordert und in Audits überprüft. Die US-Behörde FDA (Federal Drug Administration) setzt dabei weltweit die Maßstäbe im Medizinbereich, da praktisch jeder Hersteller von Medikamenten oder Medizintechnik seine Produkte in den USA vertreiben möchte und sie somit von der Behörde zulassen muss. Um deren Ansprüchen zu genügen, wurde bei PTW lange jedes Bauteil als Zeichnung abgeleitet und diese Zeichnung von allen Verantwortlichen im Prozess handschriftlich signiert und bis zum Audit abgelegt. „Wenn man an Digitalisierung denkt, ist das natürlich ein Alptraum“, erinnert sich Dr. Daniel Ruch, Director Production. „Deshalb sprachen wir mit unserem Softwarepartner Inneo über eine Möglichkeit, auf digitale Signaturen umzusteigen. Bedingung dafür war natürlich ein validierter Prozess und ebenso validierte Werkzeuge.“

Die beiden Verantwortlichen Dr. Daniel Ruch und Marco Biehler (von links) (Bild: Inneo Solutions GmbH)
Die beiden Verantwortlichen Dr. Daniel Ruch und Marco Biehler (von links) (Bild: Inneo Solutions GmbH)

Digitalisierung startet durch

Bereits seit Beginn der 2000er Jahre setzt PTW auf die Inneo-Software Pro/Engineer sowie die Datenverwaltungslösung Intralink. Im Jahr 2014 stieg PTW dann auf die PTC-Lösungen Creo und Windchill um, wobei letzteres System zunächst wieder nur zur Verwaltung der Mechanik-Konstruktionsdaten genutzt wurde. „Wir hatten von Beginn an im Hinterkopf, dass sich mit Windchill noch wesentlich komplexere Workflows umsetzen lassen“, erinnert sich Ruch, „aber wir machten uns erst Ende 2018 daran, eine Digitalisierungsstrategie umzusetzen. Eine Schwierigkeit beim Umstieg auf einen digitalen Prozess war, dass wir noch ein 2D-CAD-System und eine EDA-Software für den Leiterplattenentwurf nutzen, deren Daten ebenfalls in diesen Prozess integriert werden mussten.“ Inneo veranstaltete bei PTW einen Workshop, bei dem die Verantwortlichen ihre Wünsche und die Anforderungen an den Prozess beschrieben, die die Mitarbeiter des IT-Dienstleisters mit den Funktionalitäten von Windchill abglichen. Aus diesem Abgleich entwickelten die Beteiligten eine Roadmap für die Digitalisierung.

5.500 Testfälle zu prüfen

Die Roadmap wird nun seit drei Jahren abgearbeitet und die wichtigsten Vorhaben sind umgesetzt, vor allem die digitale Signatur. Zunächst wurden dazu die Bestandsdaten digitalisiert und in Windchill abgelegt, um möglichst schnell den Parallelbetrieb von manueller und digitaler Signatur beenden zu können. „Vor dem realen Betrieb steht im Medizintechnikbereich die Validierung“, erläutert Konstrukteur Marco Biehler. „Inneo hat ein Testsystem zur Validierung aufgebaut, in dem wir dann ein mit den Anforderungen der Regulierungsbehörden abgeglichenes Lastenheft erstellten. Aus den Anforderungen des Lastenhefts ergaben sich über 5.500 Testfälle, die wir alle durchprüften.“ Die FDA beschreibt in ihrem Gesetz FDA 21 CRF Part 11 die Anforderungen an elektronische Aufzeichnungen und elektronische Unterschriften genau. Entlang dieser Anforderungen entstanden die Testfälle, mit deren Hilfe das System validiert wurde. „Uns war dabei wichtig“, ergänzt Ruch, „dass die Anforderungen möglichst weitgehend durch Konfiguration des Basissystems umgesetzt werden. Wir haben dabei einige Kompromisse eingehen müssen, aber Customizing bedeutet eine Neuvalidierung bei jedem Versionssprung und damit viel Aufwand. Bis auf eine Kleinigkeit konnten wir Customizing vermeiden.“

Der PTW Beamscan mit Wassertank (Bild: PTW)
Der PTW Beamscan mit Wassertank (Bild: PTW)

Weitere Integrationen geplant

Die Validierung rang den Verantwortlichen auch Kompromisse bei der Anbindung des 2D- und des EDA-Systems ab. Schlussendlich wurden aber auch dafür tragbare Lösungen gefunden. Einer der nächsten Schritte ist die Anbindung des ERP-Systems, in dem ebenfalls wichtige Daten für die Dokumentation der Geräte gepflegt werden. Ein zweiter Schritt, der zeitnah umgesetzt werden soll, ist die Anbindung der Dokumentation. PTW liefert Bedienungsanleitungen in über 20 Sprachen aus. Zu den weiteren Themen der Roadmap zählen die Umsetzung des Änderungsmanagement-Prozesses in Windchill sowie die Integration weiterer Dokumenttypen in das System. Auch bei diesen Schritten gilt bei PTW „Genauigkeit vor Geschwindigkeit“, wie Biehler erläutert: „denn alleine die Integration der Dokumentation dürfte weitere etwa 2.500 Testfälle generieren, die alle überprüft werden müssen.

Digitalisierungsgrad gestiegen

„Der Erfolg der Umsetzung gibt uns Recht“, sagt Ruch. „Inzwischen nutzen wir neben den 15 Volllizenzen von Windchill, die von den Konstrukteuren genutzt werden, über 100 Lizenzen von ThingWorx Navigate View. Die Arbeitsvorbereitung und NC-Programmierung können STEP-Modelle aus Windchill abrufen und auch der Einkauf greift inzwischen auf das System zu. Das entlastet die Entwickler, die früher oft Zeichnungen, Stücklisten, Gerberdaten für die Leiterplattenherstellung und 3D-Modelle erstellen mussten, die der Einkauf an die Zulieferer weitergab. Heute ziehen die Einkäufer diese Daten selbst aus dem System.“ Ebenfalls implementiert ist, dass beim Ablegen von Zeichnungen DXF- und DWG-Dateien erzeugt werden, die später von der Qualitätssicherung für das Erzeugen von Prüfzeichnungen genutzt werden sollen. „Wir sparen heute viel Zeit und noch mehr Papier“, fasst Ruch die Digitalisierung mit Windchill zusammen. „Das System wird laufend erweitert und erfüllt dabei jederzeit die hohen Anforderungen unserer Branche. Inneo setzt unsere Wünsche und Anforderungen in Windchill so um, dass die Zertifizierungsbehörden zufrieden sind. Mehr kann man nicht verlangen.“