Anwendungsfall digitaler Zwilling

As-built-Stand automatisch aktuell

Noch werden die Konzepte des digitalen Zwillings häufiger diskutiert als umgesetzt. Wie eine Anlage mit ihrem digitalen Abbild in der Praxis kommuniziert, haben Aucotec und die Universität Magdeburg auf der Hauptsitzung des Branchenverbandes Namur gezeigt.

 (Bild: Aucotec AG)
(Bild: Aucotec AG)

Die Stichworte Digitalisierung und digitaler Zwilling sind zwar in vielen Bereichen noch Theorie, doch erste Projekte veranschaulichen das Potenzial, das darin steckt. Auf der letzten Namur-Hauptsitzung hat der Hersteller von Engineering-Software Aucotec zusammen mit der Universität Magdeburg gezeigt, wie eine Anlage mit ihrem digitalen Zwilling und der eigenen Dokumentation kommuniziert. Mit auf diese Weise aktuell gehaltenen Anlagendaten lassen sich IoT-Projekte umsetzen. Vorausgesetzt, es werden ein disziplinübergreifendes Datenmodell und ein Sprachstandard wie OPC UA (hier auf Basis von Namur Open Architecture) eingesetzt.

Dreifache Digitaldienste

Vor kurzem veröffentlichte der Automation-Newsletter (21/2019) des SPS-Magazins das Zwischenergebnis einer Studie, die der VDMA zusammen mit der Unternehmensberatung PWC erstellt hat. Sie zeigt, dass im Anlagenbau die technologieorientierten Geschäftsmodelle, die heute mit etwa 60 Prozent den Markt dominieren, im Jahr 2025 nur noch rund 20 Prozent ausmachen könnten. Digitale, also datengesteuerte Services hingegen würden ihren Anteil auf etwa 15 Prozent im Vergleich zu heute verdreifachen.

Aktuelle Anlagendaten gefragt

Eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung sind aktuelle Anlagendaten. Ob Predictive Maintenance oder Full-Service-Geschäftsmodelle, bei denen das Produkt zum Beispiel nicht mehr der Kompressor selbst, sondern die Verfügbarkeit von Druckluft ist: Ohne verlässliche Daten sowie Erreich- und Auswertbarkeit über Webservices werden Maschinen- und Anlagenbauer diesen Weg nicht gehen können. Die meisten Anlagen, die aktuell betrieben werden, stammen jedoch noch aus dem 20. Jahrhundert. Und sie wurden und werden im Laufe ihres jahrzehntelangen Lebens vielfach um- und ausgebaut. Entsprechend alt sehen viele Dokumentationen aus. Wo aber kommen die aktuellen Anlagendaten her, die solche Services möglich machen?

Digital ist nicht genug

Um die skizzierten IoT-getriebenen Geschäftsmodelle zu ermöglichen, müssen Engineeringdaten pausenlos verfügbar und disziplinübergreifend interpretierbar sein. Denn die Darstellung einer Pumpe in einem P&ID (Piping & Instrumentation Diagram) ist ohne dazugehörige Loops und ohne Navigierbarkeit bis zu ihrer letzten Klemme im Schaltschrank kein vollständiger digitaler Zwilling. Und in einem Störfall, bei dem es auf Sekunden ankommt, reicht ein P&ID nicht aus.

Laufende Aktualisierung

So ein umfassendes Datenmodell als Single Source of Truth für alle Disziplinen des Anlagendesigns liegt der Plattform Engineering Base des Systementwicklers Aucotec zugrunde. Für die Digitalisierung älterer Anlagen hat der Anbieter zudem eine Lösung entwickelt, die über Mapping und Konfiguration Bestandsdaten ins eigene System überträgt, anreichert und aktualisiert. Doch sobald eine Anlagendokumentation auf dem neuesten Stand ist, läuft sie schon wieder Gefahr zu veralten, denn Veränderung ist eine sichere Konstante im Lauf eines Anlagenlebens. Daher liegt ein Fokus bei Aucotec auf Unterstützung der Instandhaltung. Service-Fachleute können vor Ort mit mobilen Geräten per App ihre Änderungen ins System einpflegen. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Automation und Kommunikation (IFAK) der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg ging das Softwarehaus einen Schritt weiter: In einem Anwenderfall ’sprach‘ die Anlage selbst mit der Dokumentation und informierte die Engineering-Software direkt über die physischen Änderungen, die ein Servicetechniker vorgenommen hatte.

OPC UA und NOA

Der Anwendungsfall ‚Automatisierte Aktualisierung der Anlagendokumentation‘ wurde auf der letzten Namur-Hauptsitzung in einem Workshop zum Praxis-Einsatz der Namur Open Architecture (NOA) vorgestellt. Er veranschaulichte, wie das Engineering vom neutralen OPC-UA-Format (Open Platform Communications/Unified Architecture) auf Basis der NOA profitiert. In einer Live-Demonstration mit Video-Schaltung in die Anlage demonstrierte der Initiator des Anwendungsfalls, Professor Dr. Christian Diedrich vom IFAK zusammen mit Aucotec-Produktmanager Martin Imbusch, wie sich das physische Auswechseln eines Messumformers unmittelbar in der Anlagen-Dokumentation niederschlägt. Basis für das Praxisbeispiel war die Versuchsanlage der Interessen-Gemeinschaft Regelwerke Technik (IGR) im Industriepark Höchst. IFAK, Aucotec und IGR hatten das Beispiel gemeinsam für die Präsentation entwickelt.

Anlage spricht Software

Für die Live-Demonstration wurde die IGR-Anlage über ihren OPC-UA-Server mit Aucotecs Cloud verbunden. Die Engineering-Anwendung empfing in bestimmbaren Intervallen über die sogenannte Datendiode, die nur lesend auf die Anlage zugreift und nur in eine Richtung kommuniziert, die Live-Daten der Anlage. Im Datenmodell erschienen nach dem Austausch an jeder Stelle, die den Sensor in irgendeiner Form darstellt, die Hinweise zur Änderung. Jeder Bearbeiter jeder Disziplin weiß daher sofort, ob und welche Konsequenzen zu ziehen sind, etwa Verdrahtung anpassen, Spezifikationsblätter aktualisieren oder neue Revisionsstände erzeugen. Die Anlage meldet Änderungen ihres As-built-Stands automatisch, und die Dokumentation zeigt immer den neuesten Stand – ohne Redlining, ohne Papier, ohne händische Übertragungen. Wartungs- und Umbauarbeiten werden dadurch erleichtert und übersichtlicher.

„Einen großen Schritt weiter“

Professor Diedrich von der Universität Magdeburg zeigte sich von der Demonstration beeindruckt: „Die Lösung bringt uns einen großen Schritt weiter. In wenigen Sekunden wird der Austausch nicht nur erkannt, sondern lässt sich automatisch in die Dokumentation, die so stets aktuell ist, eingliedern. Mit File-basierten Systemen wäre diese Art der Kommunikation mit der Anlage nur sehr bedingt hilfreich, da sie Änderungen nur blattbezogen umsetzen könnten.“ So können die neuen, von der VDMA-PWC-Studie prognostizierten digitalen Services schon heute auf verlässlich aktuellen und separat extrahierbaren Daten aufbauen.