KI-Paket von Robotron und Kontron

Standardisierter Ansatz für Computer Vision-Hardware

Robotron setzte bei vielen KI-Implementierungen auf Kontron-Hardware. Um den wiederholt anfallenden Aufwand für die Hardware-Auswahl zu reduzieren, entwickelten beide Firmen jetzt einen One-fits-all-Ansatz. Mit der neuen AI-Workstation können selbst Domänenspezialisten etwa Prüfprobleme eigenständig Machine-Vision-gestützt lösen.

Bild: © xiaoliangge /stock.adobe.com
Bild: © xiaoliangge /stock.adobe.com

Der Name Robotron ist vielen ein Begriff: Zu DDR-Zeiten arbeiteten beim Kombinat für Computertechnik aus Dresden fast 70.000 Menschen. Nach der Wende stand die Abwicklung des Staatsbetriebs bevor, doch Senior-Geschäftsführer Dr. Rolf Heinemann entschloss sich zu einem Management-Buyout. 1990 gründete er die Robotron Datenbank-Software GmbH mit acht weiteren Gesellschaftern und damals 26 Beschäftigten. Zu den wichtigsten Segmenten zählen heute die Energiewirtschaft, die öffentliche Verwaltung und die Industrie, hier vor allem die diskrete Fertigung mit Manufacturing und Automotive. Der Kernkompetenz blieb man treu: die Verwaltung und Auswertung großer Datenmengen auf der Basis von Datenbank-Software. Heute erwirtschaften rund 600 Beschäftigte einen Jahresumsatz von 62 Millionen Euro.

Praktische Computer Vision

KI-Anwendungen spielen insbesondere in der Qualitätskontrolle und in Predictive Maintenance-Szenarien ein Rolle. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze – einige basieren auf bildgebenden, andere auf regelbasierten Verfahren. Um die Anwendungsszenarien rund um Computer Vision praktisch umzusetzen, werden zunächst ausreichende Bilddatensätze und annotiertes Wissen benötigt. Die Bilder müssen gelabelt sein, damit der Algorithmus zwischen korrekten und fehlerhaften Bauteilen unterscheiden und trainiert werden kann. Für Anwenderunternehmen ist oftmals mangelndes KI-Knowhow ein Problem. Im Produktionsumfeld mit seinen bereits existierende Lösungen gerät die Auseinandersetzung mit neuen Technologien zur Herausforderung. Daher finden KI-Projekte oft zunächst außerhalb der eigentlichen Produktion statt. Dort fehlen dann aber oft der Praxis-Input sowie die durchgängige Integration in die Prozesse.

Alltagstaugliche Ansätze

Die Spezialisten bei Robotron sind deshalb überzeugt, dass es nicht reicht, eine ‚coole‘ Data-Science-Plattform zu haben. Vielmehr müsse man auch die Sprache der Fertigungsleiter und Produktionsingenieure sprechen und interdisziplinär auftreten, um KI-Produkte in den Markt zu bringen. Um schnell produktiv nutzbare Lösungen zu integrieren, setzt der Anbieter daher besonders auf den Reinforcement Learning-Ansatz: „Die Strategie, antrainierte und nachtrainierte Netze zu nutzen, bringt viele Vorteile. Etwa wenn man einem neuronalen Netz schnell neue Fehlertypen beibringen möchte oder andere Farben eines Produkts oder Teils. Das ist in der Praxis wichtig, um AI-Lösungen schnell an neue Kontexte zu adaptieren“, erläutert Dr. Deepa Kasinathan, Product Owner und Gruppenleiterin Realtime Computer Vision bei Robotron. Fertigungsspezifisches Prozesswissen ist entscheidend für den Erfolg dieser KI-Projekte: „Da sich meist nicht von vorneherein sagen lässt, welches neuronale Netzwerk sich am besten eignet, müssen die Domänenspezialisten ein bisschen ausprobieren und vor allem auch die unterschiedlichen umliegenden Systeme einbinden“, schildert Kasinathan. Doch das Produktdesign von Robotrons Realtime-Computer-Vision-Plattform bezieht die Themen, die in der Praxis oft Probleme machen, implizit mit ein. Die offen konzipierten Schnittstellen ermöglichen nicht nur die Nutzung eines Frameworks oder neuronalen Netzes, sondern viele Alternativen.

Individual-Aufwand reduzieren

Die hauptsächliche Herausforderung bei Kundenprojekten bestand zuvor in der Auswahl der passenden Hardware. Hier arbeiteten die Dresdner schon seit längerem mit Kontron zusammen. Bei der Umsetzung von KI-Szenarien gibt es hardwareseitig in der Regel zwei Ebenen: Zum einen eine Trainingsebene, in der Bilddaten aufgebaut werden. Hier kommt die Cloud ins Spiel, denn die für das Training kurzfristig benötigte hohe Rechenleistung lässt sich kurzfristig mieten. Die andere Ebene ist der Algorithmus selbst, der oft möglichst vor Ort in der Nähe des Prozesses laufen soll. Dafür ist verlässliche und ausreichend performante Edge-Hardware notwendig. „Durch zahlreiche gemeinsame Proofs of Concept hat Robotron Kontron als verlässlichen Hardware-Partner, der maßgeschneiderte Lösungen zur Verfügung stellt, schätzen gelernt“, sagt Deepa Kasinathan. Nachdem eine Reihe von Konfigurationen getestet und immer wieder einiges an Energie in die Hardware-Auswahl investiert wurde, sah man sich das bislang genutzte Hardware-Spektrum genauer an. Ziel war es, den individuellen Aufwand für die Hardwareauswahl durch einen One-fits-all-Ansatz zu ersetzen.

Ähnelt einem Desktop-Computer: die AI-Workstation von Robotron. (Bild: Kontron Europe GmbH)
Ähnelt einem Desktop-Computer: die AI-Workstation von Robotron. (Bild: Kontron Europe GmbH)

Hardware für fast alle Fälle

Schon innerhalb von vier Monaten entstand ein gemeinsames Standardprodukt, das auf der Workstation KWS 3000-CML von Kontron basiert, auf der die Realtime Computer Vison-Software (RCV) von Robotron läuft. Die Workstation ist im kompakten Midi-Tower-Gehäuse untergebracht, die auf pausenlosen Betrieb bei bis zu 45 Grad Celsius ausgelegt ist. Für Rechenleistung sorgen Intel Core-Prozessoren mit bis zu zehn Kernen und die Workstation-Grafikkarten RTX 5000 von Nvidia. „Das ist eine GPU-Generation mit genügend Processing Power und RAM für das Training, mit der sich in Millisekunden eine Bewertung eines erfassten Bildes treffen lässt“, sagt Deepa Kasinathan. Mit dem System kann sich eine gleichbleibende Prüfqualität auch bei Ramp-ups und spontanen Prozessproblemen sicherstellen lassen. „Wenn noch schnellere Inferenzzeiten benötigt werden, dann schalten wir mehrere GPUs zusammen. Das Kontron-Konzept basiert auf einzelnen Bausteinen und lässt sich stark erweitern, ohne dass gleich eine neue Workstation angeschafft werden muss“, berichtet die Gruppenleiterin. Wichtig sei jedoch auch immer, sich den Gesamtprozess anzuschauen, in dem das Prüfergebnis verarbeitet wird. Neben der Inferenz komme es auch auf die Kameraanbindung an und welche Netzwerke mit welchen Latenzen zum Einsatz kommen.

Revisionssichere Lösungen

Zu Projektbeginn war noch geplant, Standardkameras zur Workstation zu konfigurieren. „Die Art und Weise, wie Bilder jeweils für einen Use Case aufgenommen werden, unterscheidet sich allerdings sehr stark. Ausleuchtung, Materialvarianten in Farben wie Matt, Silber oder in Edelstahl, Lichteinfall, Entfernung vom Objekt – das ist kundenindividuell zu unterschiedlich, um es mit einer Kameratechnologie abzudecken“, so Kasinathan. Auch bei den SPS-Anbindungen sei die Varianz zu groß für vorkonfigurierte Softwarekomponenten. „Allerdings können Kunden Kontakt mit Kontron aufnehmen und spezifische Schnittstellen erhalten“, sagt Kasinathan. Damit die KI im Prozess funktioniere, brauche es nicht nur trainierte Netze und gelabelte Bilder. Die Lösung müsse auch an die SPS der Vorsysteme angebunden, Sollwerte und Output-Orte geklärt und Sensorik und Lichtschranken eingebunden werden. Schließlich gelte es in der Industrie, zu revisionssicheren Lösungen zu kommen – beispielsweise um zu erkennen, dass ein korrektes Mindesthaltbarkeitsdatum an der richtigen Stelle aufgebracht wurde. Dabei könnten sich die Anwender durch das One-fits-all-Konzept jedoch den größten Aufwand sparen.

Aufwand gespart

Mit diesem Standardisierungsansatz soll sich die KI-Lösung von anderen Angeboten auf dem Markt abheben. Die Dienstleister bietet ein übergreifendes System für Training, Deployment und Inferenz. Der gewählte No-Code-Ansatz soll dafür sorgen, dass nicht nur die Datenwissenschafter, sondern auch Produktionsingenieure und selbst Maschinenbediener Szenarien umsetzen können. Damit etwa die Zielgruppe der Qualitäts- oder Fertigungsingenieure Prüfprobleme in der Fertigung eigenständig mit KI-Tools lösen können, bietet der IT-Dienstleister und sein Hardware-Partner Service-Werkzeuge wie kostenlose Hotlines sowie Lernvideos auf YouTube an. Zumindest in Teilen soll das den Flaschenhals beseitigen, der durch den Fachkräftemangel im Data-Science-Umfeld besteht.

Definition von Bounding Boxes zur annotation im RCV (Bild: Robotron Datenbank-Software GmbH)
Definition von Bounding Boxes zur annotation im RCV (Bild: Robotron Datenbank-Software GmbH)

Von Oberflächenerkennung bis Bin Picking

Generell gibt es kaum Einschränkungen bezüglich der möglichen Use Cases mit dem System. Machbar sind „Defekterkennung z.B. in Metalloberflächen oder in der Polymerherstellung, Prüfung auf korrekt gepackte Blister-Verpackungen in der Pharmaindustrie, Vollständigkeitsprüfungen bei Bauteilen oder Kontrollen in der Lebensmittelindustrie“, schildert die Gruppenleiterin. Auch die Vereinzelung von chaotisch bereitgestellten Objekten (Bin Picking) lässt sich umsetzen, ebenso wie Sortier- und Zählaufgaben. Inferenz ist sowohl auf CPUs etwa mit Intel OpenVino möglich, aber auch auf GPUs verschiedener Hersteller. Dabei lassen sich unterschiedliche Frameworks wie PyTorch oder TensorFlow und vortrainierte Netzwerke darauf per Dropdown-Menü auswählen. Weitere Netzwerke wie ONNX, Keras oder Microsoft CNTK können ebenfalls genutzt werden.

Ausbau der Partnerschaft

Künftig wollen die Partner weitere neue Lösungen erarbeiten. Wenn sich langfristig mehr 5G-Campusnetze in der Produktion etablieren, lässt sich die Bandbreite der AI-Workstation durch PCI Express-Bausteine weiter erhöhen. Auch eine Profinet-Anbindung, die in der Produktion häufiger gefragt ist, könnte noch umgesetzt werden.