Yann Lechelle, CEO von Scaleway

„Gaia-X könnte gut ohne Cloud-Anbieter auskommen“

Kurz nach den Vorstandswahlen bei Gaia-X im letzten November zog sich Gründungsmitglied Scaleway aus dem Euro-Cloud-Projekt zurück. Wird der Kurs der Organisation nun von Akteuren mitbestimmt, die mehr am Erhalt des Status Quo als an der Entwicklung europäischer Alternativen interessiert sind? Scaleway-Chef Yann Lechelle schildert, was aus seiner Sicht bei Gaia-X schief läuft.

Bild: Scaleway
Bild: Scaleway

Gaia-X entferne sich von seinen ursprünglichen Zielen, begründen Sie als CEO von Scaleway Ihren Rückzug aus dem europäischen Cloud-Projekt. Was ist da los?

Yann Lechelle: Die begrüßenswerten Ziele des Zusammenschlusses wurden durch ein Polarisierungsparadoxon abgelenkt und gebremst, welches den Status quo eines weiterhin unausgewogenen Marktumfeldes stärkt. Die jüngsten Entwicklungen, oder deren Fehlen, haben uns einfach zu dem Schluss gebracht, dass Gaia-X nichts für uns ist. Dabei hatten wir anfangs große Hoffnungen in das Projekt gesetzt. Es ist immer deutlicher geworden, dass die ursprüngliche Absicht, Europa bei der Wiedererlangung seiner digitalen Souveränität zu helfen, wahrscheinlich nicht erreicht werden kann – zumindest dachten wir, dass dies das Ziel des Projekts war.

Der wichtigste Grund für unsere Entscheidung ist die Tatsache, dass der Verband weitgehend von großen US-amerikanischen und jetzt auch chinesischen Unternehmen beeinflusst und finanziert wird, von der Vorstandsebene bis hin zu den technischen Arbeitsgruppen. Obwohl wir uns für eine europäische Führung einsetzten, ist der Einfluss weitgehend indirekt und taktisch, da die ursprüngliche Natur des Leitungsgremiums und der Satzung umgangen werden. Es besteht die Gefahr, dass der Verband nur eine weitere in Brüssel ansässige Technologieorganisation wird, die vorgibt, die Interessen aller zu vertreten, während sie in Wirklichkeit den Bedürfnissen der großen Akteure Vorrang einräumt, die ihren Marktanteil konsolidieren, statt Offenheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu fördern.

Die anfangs auf politischer Ebene auf beiden Seiten des Rheins formulierten Projektziele haben wir vollständig unterstützt, nämlich ‚Gewährleistung der Datenhoheit, -verfügbarkeit, -interoperabilität und -portabilität‘ sowie ‚Förderung von Transparenz‘. Natürlich wussten wir von Anfang an, dass es eine interessante Herausforderung sein würde, eine gemeinsame Vision zu fördern, schon allein aufgrund der beteiligten Unternehmen: die drei französischen Cloud-Service-Anbieter OVH, Outscale und Scaleway standen Branchenriesen aus Deutschland wie BMW, Volkswagen und Deutsche Bank gegenüber, die meist außereuropäische Cloud-Technologien und -Dienste nutzen.

Scaleway und ich persönlich haben deutlich gemacht, dass wir Gaia-X verlassen würden, sollten außereuropäische Unternehmen sich an der Führung des Gremiums beteiligen dürfen. Ob Sie es glauben oder nicht, für einige Projektbeteiligten war bereits das keine Selbstverständlichkeit, weswegen ich sogar mein Veto-Recht nutzen musste, um unserer Auffassung nach katastrophale Weichenstellungen zu verhindern. Aber auch Monate später wurde immer wieder diskutiert: Sollen wir alle Bewerber aus der ganzen Welt aufnehmen? Verständlicherweise sollte Gaia-X offen für globale Akteure sein, wenn sie auf den europäischen Märkten ein – manchmal zu starkes – Standbein haben. Aber hätten wir nicht Kriterien etablieren müssen, die den Eintritt von Unternehmen verhindern, an denen Regierungen von Drittländern beteiligt sind, etwa Palantir oder Huawei?

Wir wollten vermeiden, dass solche Unternehmen mit Verweis auf ihr Wirken an Gaia-X später behaupten könnten, die digitale Souveränität Europas vorangebracht zu haben. Wenn ich mir anschaue, wie auf dem Twitter-Account von Gaia-X vor einigen Wochen der Beitrag von Huawei Europa zur digitalen Souveränität beworben wurde oder ich mir die Sponsorenstruktur des letzten Gaia-X-Gipfels anschaue, muss ich leider feststellen, dass sich diese Entwicklung bereits abzeichnet. Dahinter droht die Gefahr, dass entstehende Standards die dominierenden Akteure begünstigen und nicht den Bedürfnissen der europäischen Technologieanbieter entsprechen. Die Vorstandswahl im vergangenen Juni sandte ebenfalls wenig vielversprechende Signale aus, was die Repräsentanz des europäischen digitalen Ökosystems betrifft: Dem Vorstand gehört jetzt nur noch der Cloud-Service-Anbieter OVH an, da weder Outscale noch Scaleway wiedergewählt wurden. Auch die HPE-Tochter Aruba ist nicht mehr vertreten. Stattdessen sind vier Telekommunikationsbetreiber hinzugekommen. Zudem traten die Wirtschaftsverbände CISPE, Digital Europe und Bitkom dem Vorstand bei, was auch ihren außereuropäischen Mitgliedern direkten Zugang zur politischen Führung des Verbandes verschafft. Insgesamt setzt sich der Vorstand heute mehrheitlich aus europäischen Industrievertretern zusammen, die hauptsächlich außereuropäische Cloud-Technologien nutzen. Neutrale Entscheidungen sind darum kaum zu erwarten. Da keine KMU, Software- oder Open-Source-Unternehmen im Vorstand vertreten sind, bleibt ein weiterer wesentlicher Teil des europäischen digitalen Umfelds unrepräsentiert.

Nochmals: Als Gründungsmitglied unterstützen wir die ursprünglichen Absichten hinter Gaia-X zu 110 Prozent. Mit unserem Austritt wollen wir vermeiden, eines Tages der Tatsache gegenüber zu stehen, dass die wichtigen Fragen zur Interoperabilität, Datenübertragbarkeit und -souveränität – ähnlich wie beim Greenwashing – nur scheinbar gelöst, und diese Scheinlösungen noch dazu auf EU- und nationaler Ebene in den Rang allgemeingültiger Standards erhoben werden.

Was hätten Sie anders gemacht?

Lechelle: Die Definition und Strukturierung von Datenräumen bleibt der interessanteste Aspekt von Gaia-X. Wir hatten große Hoffnungen in die Initiative gesetzt, und in gewisser Weise haben wir diese immer noch. Diese Hoffnungen betreffen aber die Interessen der Cloud-Nutzer, also derjenigen, die Daten erzeugen. Als Cloud-Anbieter ist Scaleway nicht an der Erzeugung von Daten beteiligt. Die Daten werden von unseren Kunden erzeugt. Gaia-X könnte demnach gut ohne die Cloud-Anbieter auskommen, und zwar alle! Dass die großen Cloud-Anbieter in den technischen Gruppen und indirekt in der Leitung des Verbandes mitwirken, ist das denkbar schlechteste Rezept. Zumal jeder dieser Akteure über mehr Mittel verfügt, als das gesamte europäische Ökosystem zusammen.

Der CIO von Dracoon, Marc Schieder, sagte uns Anfang letzten Jahres, der Erfolg von Gaia-X werde im Jahr 2021 entschieden, da in diesem Zeitraum die Interessen der außereuropäischen Stakeholder zu integrieren seien, ohne neue Abhängigkeiten zu schaffen. Dieser Auffassung folgend: Ist das Projekt gescheitert?

Lechelle: Technologieprojekte verzögern sich häufig, von einem endgültigen Scheitern ist derzeit nicht auszugehen. Doch dass der jüngste Gipfel die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt, könnte sich als fatal erweisen. Das ist zugleich unser Hauptkritikpunkt: Schnelligkeit ist entscheidend in einem Marktumfeld, in dem die dominierenden Akteure ihre Roadmap immer weiter vorantreiben und dabei definieren, was die Cloud von morgen leisten muss. Die Gaia-X-Entwürfe sind bereits mehrere Jahre alt. Wenn im Projekt die Cloud von gestern definiert wird, sinken die Erfolgschancen.

Welche Fehlentwicklung sehen Sie durch die aktuellen Entscheidungen des Gaia-X-Konsortiums begünstigt?

Lechelle: Wir hegen beispielsweise Bedenken, wie vage einige Begriffe rund um die strengste Sicherheitsstufe des Gütesiegels verfasst sind. Dort heißt es: ‚Diese Stufe zielt auf die höchsten Standards für Datenschutz, Sicherheit, Transparenz, Übertragbarkeit und Flexibilität sowie auf eine europäische Kontrolle ab. Sie erweitert die Anforderungen der Stufen 1 und 2 um Kriterien, die die Immunität gegenüber außereuropäischen Gesetzen und ein hohes Maß an Kontrolle über die Anbieterbindung gewährleisten. Ein Standort in Europa ist obligatorisch. Als Mindestanforderung an die Cybersicherheit muss der ENISA European Cybersecurity Scheme Level High erfüllt sein.‘ Der Aspekt der Extraterritorialität wird in diesem Text nicht einmal erwähnt und der Begriff ‚europäische Kontrolle‘ ist fast beliebig auslegbar und daher bedeutungslos. Zwar begrüßen wir die Verknüpfung mit dem ENISA-System. Aber wir verstehen nicht, wie einige außereuropäische Akteure, die sich ansonsten vehement gegen das hohe Niveau dieses Zertifizierungssystems wehren, plötzlich einen Verweis darauf in Gaia-X unterstützen? Wird auf das Scheitern von ENISA und ihrer Mitgliedstaaten gewettet?

Das Gleiche gilt für das Ziel der ’starken Kontrolle der Anbieterbindung‘: Diese Formulierung ist sicherlich das Ergebnis intensiver Verhandlungen, aber was wird in Gaia-X gegen bereits existierende Lock-in-Phänomene getan? Die Effekte gilt es nicht zu kontrollieren, sondern abzuschwächen. Jedenfalls wenn oligopolistische Bedingungen auf dem Cloud-Markt gelockert werden sollen, die europäischen Anbietern und Cloud-Nutzern Nachteile bringen.

Darüber hinaus sehen wir, wie wirkungslos die freiwilligen Verhaltenskodizes der SWIPO-Vereinigung bleiben, die Cloud-Wechsel und Portierung erleichtern sollen: Google und Microsoft unterstützen keinen einzigen der Dienste, AWS nur drei von ihnen. Gleichzeitig wird über einen zentralen Aspekt kaum gesprochen: die Datenrückholkosten oder auch Egress-Gebühren. Aufgrund unserer Erfahrungen am Markt teilen wir die Einschätzung des Justizausschusses des US-Repräsentantenhauses vom Oktober 2020 voll und ganz, dass die hohen Kosten eines Cloud-Wechsels für Kunden de facto einen Lock-in bedeuten.

Nachdem schon die SWIPO-Verhaltenskodizes wirkungslos geblieben sind, werden weitere freiwillige Ansätze, wie sie bei Gaia-X auf technische Anforderungen abzielen, den Status quo weiter erhalten. Wir brauchen stattdessen harte Gesetze auf EU-Ebene, um Datenportabilität zu erleichtern, Kunden eine finanziell realistische Anbieterwahl zu ermöglichen und den freien Datenfluss auf dem europäischen Kontinent wirklich zu verbessern.

Seit dem Start von Gaia-X hieß es hinter vorgehaltener Hand, Projektziel sei weniger die Cloud-Infrastruktur selbst, als eine europäisch ausgehandelte Zertifizierung, die Hyperscaler weltweit umsetzen können. Trifft diese Sicht Ihrer Meinung nach zu?

Lechelle: Ja, leider. Zugleich kommt diese Position dem Eingeständnis der Niederlage gleich, einen lokalen Service liefern zu können, der vom Rechenzentrum über die Infrastruktur bis zur Software reicht. Es ist eine Position, die auf den Erfahrungen jahrelanger Marktdominanz einiger Anbieter beruht. Europa muss mutiger sein, wenn es existentielle Bausteine der Wirtschaft reindustrialisieren möchte. Die Cloud ist einer davon, im Sinn einer Versorgungsdienstleistung ersten Ranges. Die Annahme, dass nur US-Hyperscaler diese Ebene bereitstellen können, schafft perfekte Voraussetzungen für eine definitive Abhängigkeit. Die derzeitigen Bemühungen, die europäische Halbleiterindustrie wiederzubeleben, können als perfekte Mahnung dienen, diesen kostspieligen Fehler beim Cloud Computing nicht zu wiederholen.

Wozu raten Sie den verbleibenden Projektbeteiligten?

Lechelle: Die Hauptakteure sollten sich darauf konzentrieren, die Datenräume abzusichern, unabhängig von den Cloud-Anbietern und ungeachtet jeglicher Marktdominanz. Sie sollten die Geschwindigkeit hochfahren und schnell greifbare Ergebnisse liefern.

Was nehmen Sie aus Ihrem Engagement für Gaia-X mit?

Lechelle: Die USA verfolgen seit Trump eine America First-Doktrin, die Biden kaum verändert. China ist nicht viel anders. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind sich zunehmend bewusst, dass Europa seine Fähigkeit zur Selbstversorgung stärken muss. Ich glaube, dass auch die Politiker zunehmenden Handlungsdruck verspüren. In Frankreich ist der Begriff der ’souveränen Cloud‘ zu einem zentralen Thema bei den nächsten Präsidentschaftswahlen geworden. Unsere Entscheidung ist demnach klar: Wir werden uns darauf konzentrieren, die Versprechen von Gaia-X mit unseren Angeboten einzulösen. Durch die Bereitstellung von Multi-Cloud-Produkten und -Strategien, durch interoperable und reversible Workload-Orchestrierung mit unserer Multi-Cloud-Kubernetes-Kontrollebene Kosmos oder mit unserem Multi-Cloud-Load Balancer. In unseren europäischen Rechenzentren in Paris, Warschau und Amsterdam wollen wir zeigen, welche Souveränität Kunden erlangen können: mit minimalen Abhängigkeiten und bestmöglichem Datenschutz. Wir arbeiten in neuen Koalitionen wie Euclidia mit alternativen europäischen Akteuren zusammen, um dem europäischen Tech-Ökosystem Gehör zu verschaffen. Damit die Gesetzgeber die Vorzüge der Cloud-Technologien sowie die Komplexität der Märkte verstehen. Und um zu zeigen, dass eine sinnhafte Cloud machbar ist, mit der unsere Volkswirtschaften ihre digitale Transformation und ihre Widerstandsfähigkeit voranbringen können. Wir sind überzeugt, dass unser radikaler Ansatz in Sachen Transparenz positive externe Effekte hat und Vertrauen schafft. Das sind wir unseren Kunden, unseren öffentlichen Einrichtungen, aber auch der Gesellschaft insgesamt und den nächsten Generationen schuldig. (ppr)

Vielen Dank für das Gespräch!







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