Ulrich Sendler: Das Gespinst der Digitalisierung

Die besondere Rolle der
Industrie beim digitalen Umbruch

Auf jeder Konferenz im Industrieumfeld wird jetzt über die digitale Transformation der Industrie gesprochen. Aber die sehr spezielle Rolle, die die Digitalisierung der Industrie für den gesamtgesellschaftlichen Umbruch spielt, kommt dabei in der Regel nicht zur Sprache. Meist wird nicht einmal verstanden, dass es nicht um die Anwendung von Google- und Facebook-Rezepten etwa auf den Maschinenbau geht. Es wird drängend, diese Fragen zu adressieren. Denn es bleibt nicht viel Zeit, um sie für den Standort Deutschland richtig zu beantworten. Mein Buch ‚Das Gespinst der Digitalisierung‘ soll dazu beitragen.

Ulrich Sendler: Das Gespinst der Digitalisierung
Ulrich Sendler: Das Gespinst der Digitalisierung – Menschheit im Umbruch – Auf dem Weg zu einer neuen Weltanschauung, Springer Fachmedien Wiesbaden, ISBN 978-3-658-21896-6 (als e-book -21897-3)

Wie gut es der Industrie geht, wie viele Mitarbeiter sie beschäftigt, wie viel ihre Wertschöpfung zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, sind einige der Hauptkriterien dafür, wie gut es dem Land und den Leuten geht, wie stabil die Demokratie als bisher beste aller Regierungsformen ist. Die Stabilität der Demokratie und der Wohlstand in einem Land hängen deshalb so eng mit einer gesunden Industrie zusammen, weil die moderne Demokratie und der Sozialstaat Früchte der industriellen Revolution sind. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden – nach rund zweitausend Jahren Pause – die ersten demokratischen Verfassungen der Neuzeit in den drei Ländern, in denen zur selben Zeit die industrielle Revolution begann: in England, Frankreich und den USA. Der Zusammenhang gilt leider auch umgekehrt. Wie die Industrie sich auf den digitalen Umbruch einstellt, hat großen Einfluss darauf, wie stark die Menschen im Land auf den demokratischen Rechtsstaat setzen, wie wichtig ihnen die individuellen Freiheiten sind. Oder wie heftig sie zurück in die vermeintlich bessere Vergangenheit wollen, weg vom Rechtsstaat und hin zum Nationalismus.

Führungsmächte aus der Wirtschaft

In den USA und in Großbritannien wurde die Industrie über Jahrzehnte bis auf einige Reste abgebaut, während sich Finanzinvestoren und vor allem in den USA die Internetgiganten als neue Führungsmächte etablierten. Resultate sind eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, der Brexit und Präsident Trump. In Deutschland, wo 2011 mit Industrie 4.0 früher als in irgendeinem anderen Land die digitale Fabrik auch ins Zentrum der Regierungspolitik rückte, sind nach wie vor rund 24% der Beschäftigten in der Industrie tätig. Und trotz starker AfD-Fraktion ist die Demokratie derzeit nicht unmittelbar bedroht. Frankreich und Präsident Macron sind ein gutes Beispiel dafür, wie schnell eine charismatische Führungspersönlichkeit mit Konzept und Perspektiven für die Zukunft das Ruder in Richtung Demokratie herumreißen und die Rückwärtstreibenden zur Bedeutungslosigkeit verdammen kann.

Der Front National hat nicht einmal Fraktionsstärke erhalten und seinen Namen geändert. Aber wenn das Versprechen nicht eingelöst wird, kann das Ruder genauso schnell wieder zurückschlagen. Das zeigen die Unruhen gegen Macron im Dezember 2018. Dass für den großen Umbruch in der Arbeitswelt auch ein anderes Sozialsystem auf die Tagesordnung muss, beginnt sich herumzusprechen. Wie es aussehen wird, ist völlig offen. Wir haben gute Gründe, uns für einen richtigen Weg in die digitale Zukunft zu entscheiden. Digital wird sie auf jeden Fall. Aber wie die digitale Gesellschaft aussieht, das hängt – solange wir eine Demokratie haben – von uns ab. Ansonsten drohen uns soziale Unruhen, wie sie Europa seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht gekannt hat.

Kann die deutsche Industrie den Unterschied zum Silicon Valley machen?

Es gibt noch einen Grund, warum die Digitalisierung der Industrie so wichtig für die Zukunft ist. Die smarte Fabrik ist eben keine Erweiterung des datenrechtsfreien Raums Silicon Valley. Wie die Industrie die Digitalisierung von Produkt, Produktion und produktbasierenden Dienstleistungen realisiert, kann den großen Unterschied zu den Internetgiganten und ihrem Daten- und Machtmissbrauch machen. Und dem Standort Deutschland eine gute Zukunft bescheren. Mit dem Internetprotokoll IPv6 ist der verfügbare Adressraum so groß geworden, dass Haut und Haar, Blatt und Wurzel rund um den Erdball mit jeweils Billionen von individuellen Internetadressen versehen werden könnten. Also natürlich auch alle Produkte, Geräte, Maschinen und Anlagen. Deshalb können künftig alle industriellen Erzeugnisse neben ihrer traditionellen Funktion zusätzlich mit integrierten Diensten in Form von Apps aufwarten. Das, was wir bisher nur von mobilen Computer-Endgeräten kennen, kann mit allem gemacht werden. Aber wie, ist nicht ausgemacht und entschieden.

Mindsphere-Daten gehören den Anwendern

Siemens beispielsweise hat mit MindSphere eine Cloud-Plattform für entsprechende Industrie-Apps eingerichtet. Dabei gehören die Daten aber – im krassen Gegensatz zu den bekannten Plattformen von Amazon, Apple, Facebook, Google oder Microsoft – bei Siemens den Kunden und nicht Siemens als Plattformbetreiber. Wird das Schule machen? Oder wird sich die eine oder andere Branche versucht sehen, mit den Daten ihrer Kunden ähnlich verantwortungslos umzugehen wie die Anbieter von Smartphones und deren Apps? Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Er muss sich – nicht nur einmalig wie beim autonomen Fahren – von Ethikkommissionen beraten lassen. Was die digitale Gesellschaft braucht, ist eine umfassende Eigentumsordnung, die regelt, wem Daten gehören und wer was damit tun darf. So wie die Industriegesellschaft eine Eigentumsordnung für Dinge, Produkte und Produktionsmittel hat, brauchen wir nun ein eindeutiges Recht für das Eigentum an Daten aller Art.

Noch etwas muss bei der Digitalisierung der Industrie wie der ganzen Wirtschaft und Gesellschaft berücksichtigt werden, das über Jahrzehnte mit einer heiligen Kuh namens ‚Privatisierung ist gut – Staat ist schlecht‘ in völlige Vergessenheit geraten ist: Die Grundbedürfnisse der Gesellschaft müssen vom Staat garantiert werden. Sie dürfen nicht vom Geschäftsmodell eines Unternehmens abhängen. Für die digitale Gesellschaft benötigen wir neue staatliche Infrastrukturen, denn das Digitale hat bereits neue menschliche Grundbedürfnisse geschaffen: Internetzugang, soziale Vernetzung, Zugang zu Wissen und Informationen, und das alles weltweit. Das würde die heutigen Internetgiganten entweder aus einem Gebiet nach dem anderen vertreiben, oder sie müssten sich ein Geschäftsmodell einfallen lassen, das zu der neuen Gesellschaft passt und den Menschen dient, nicht ausschließlich ihrem Profitstreben. Positive Beispiele gibt es bereits, und es werden mehr. Barcelona etwa baut sich ein kommunales Netz, das die Daten aller Einwohner umfasst und zugleich garantiert, dass diese Daten geschützt sind und den Bürgern gehören, nicht der Stadt und keinem Konzern. nebenan.de ist ein soziales Netzwerk, das vor drei Jahren in Berlin gegründet wurde. Es ist das Gegenstück zu Facebook, hat allein in Deutschland bereits mehr als eine Million Nutzer und über 6.000 Nachbarschaften. Hier dient die Vernetzung den Menschen und ihre Daten werden nicht für heimliche Werbegeschäfte missbraucht.

Künstliche Intelligenz – vom Menschen richtig eingesetzt

Eine Schwäche der digitalen Transformation der Industrie liegt darin, dass sie sich noch fast ausschließlich mit der Digitalisierung der Produktion befasst. Die weitere Automatisierung, das Maschinenlernen von Maschinen und Robotern, der Einsatz von künstlicher Intelligenz und Big Data Analytics zur weiteren Optimierung der Fertigung und des Anlagenbetriebs – das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere sind die Produkte und vor allem die Dienste, die über vernetzte Produkte künftig angeboten werden können. Diese Seite der industriellen Digitalisierung kommt momentan noch viel zu kurz. Das liegt daran, dass sie ein Abschiednehmen von den gewohnten Produkten und zugehörigen Geschäftsmodellen bedeutet. Dieser Abschied ist aber unausweichlich. Besser ist es, wenn die Industrie ihn selbst und aktiv in Angriff nimmt, als durch irgendwelche neuen Player dazu gezwungen zu werden. Wobei sich auch hier ein weites Feld öffnet, in dem sich staatliche Sorge für das Wohl der Bürger beweisen muss.

Welche Produkte für den täglichen Gebrauch, aber auch in der Medizin oder Altenpflege, welche produktbasierenden Dienste sind im Sinne der Menschen sinnvoll und welche nicht? Welche sollten vielleicht sogar gefördert werden, welche eher verboten? Uns hier am Vorgehen der früheren industriellen Führungsmacht USA zu orientieren, wäre keine gute Idee. Dort wurde bewiesen, dass die Industrie und generell die Wirtschaft auf sich gestellt sehr schnell den Fokus auf das Gemeinwohl verlieren können. Schließlich sollte die Industrie sich nicht das Blaue vom Himmel erwarten, das nun scheinbar mit Cloud, KI und Big Data Analytics im Angebot ist. Die Technologie ist sehr weit vorangekommen, aber weit entfernt davon, Wunder zu vollbringen. Was KI und Maschinenlernen können, hängt weiterhin vom Menschen ab, der dafür Programme schreibt und Datenmodelle definiert. Wenn wir die Fachleute haben. Womit ein weiteres Großthema angeschnitten ist.

Unser Bildungssystem, ebenfalls entstanden mit der Industriegesellschaft, müssen wir ebenso neu erfinden wie das Rechts- und Sozialsystem. Für eine Gesellschaft, in der die Menschen immer weniger Zeit für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts aufbringen müssen, weil ihnen das die Maschinen immer häufiger abnehmen, rücken – neben Kenntnissen zur Beherrschung und Gestaltung der digitalen Technologien – Kreativität und umfassende menschliche Fähigkeiten ins Zentrum. Die KI nimmt uns das nicht ab. Schon das Wort künstliche Intelligenz übrigens sollte mit großer Vorsicht gebraucht werden. Mit menschlicher Intelligenz hat sie nur so viel zu tun, als sie von Menschen entwickelt wird. Dem Menschen mit seinen Gefühlen und seiner Empathie, mit seiner Kreativität und seinem künstlerischen Gestaltungsdrang, und vor allem mit seinem Bedürfnis nach gemeinsamen Projekten, frei gestaltet von freien Individuen, wird keine Maschine je auch nur nahekommen. Hier verläuft die Grenze zwischen Mensch und Maschine. Wir sollten sie kennen und zu schützen verstehen.

Ulrich Sendler ist der Autor von: Das Gespinst der Digitalisierung
Ulrich Sendler ist der Autor von: Das Gespinst der Digitalisierung