Neues aus der Smartfactory-KL

„Philosophie der Digitalisierung“

Im Industriekonsortium um die Industrie 4.0-Anlage der Smartfactory-KL arbeiten selbst Konkurrenten produktiv auf ein gemeinsames Ziel hin. Möglich machte dieses Leuchtturmprojekt insbesondere die Moderation des langjährigen Vorsitzenden des Vereins, Professor Detlef Zühlke. Im Frühjahr 2019 gibt der Wissenschaftler das Projekt an seinen Kollegen, Professor Martin Ruskowski, ab. Wir sprachen auf der letzten Hannover Messe mit beiden Forschern über die Übergabe und den neusten Stand der modularen Fabrik.

Prof. Dr. Zühlke übergibt Aufgaben an Prof. Dr. Ruskowski
Prof. Dr. Zühlke übergibt Aufgaben an Prof. Dr. Ruskowski | Bild: Smartfactory-KL / Alexander Sell

Professor Zühlke, nächstes Jahr geben Sie die Verantwortung in der Smartfactory-KL an Ihren Kollegen Professor Ruskowski ab. Seit den Anfängen des Projekts im Jahr 2004 ist eine Menge Zeit vergangen. Ebbt das Interesse an der Industrie 4.0-Anlage langsam ab?

Detlef Zühlke: Es hat im Gegenteil enorm zugenommen, insbesondere das Interesse aus dem Ausland. Momentan sind viele Länder aus Asien sehr aktiv. Ich war gerade am Haier-Stand, weil wir ein gemeinsames Forschungszentrum in Kaiserslautern aufbauen werden. Kürzlich haben wir mit Vertretern aus Singapur besprochen, etwas ähnliches zu machen. Auch mit vergleichbaren Organisationen in den USA sind wir derzeit sehr aktiv.

Im vergangenen Jahr beschrieben Sie die Haltung der amerikanischen Vertretungen als eher beobachtend. Sucht die US-Industrie jetzt die offene Kooperation?

Zühlke: Das Verhältnis zu der amerikanischen Industrie ist sicher anders als zu manchen asiatischen. Kooperation heißt dort nicht, uns zu kopieren, sondern von uns zu lernen. Wir werden demnächst an verschiedenen Veranstaltungen in den USA teilnehmen, darunter an einem Workshop in Los Angeles und der IMTS in Chicago. Darüber verhandeln wir gerade mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Heute kamen auch Besucher von der Automation Alley zu uns. Dies ist etwas ähnliches wie die Smartfactory-KL mit Sitz in Detroit, wo viele Automatisierer rund um die Automobilindustrie angesiedelt sind. Aber es geht wie gesagt nicht um einen Nachbau 1:1, sondern darum, von uns zu lernen und ein entsprechend passendes Modell auch bei ihnen aufzusetzen.

Was lässt sich von der Smartfactory-KL lernen?

Zühlke: Die Art, wie man Zusammenarbeit organisiert. Wir haben teilweise Konkurrenten an Bord, die sich am Anfang mit der offenen Zusammenarbeit schwer tun. Wir haben sehr viel Erfahrung, in solchen Fällen zu vermitteln. Das geben wir gerne weiter. Dann haben wir für uns eine Reihe von Standards entwickelt, die man braucht, um ab dem Stecker für Interoperabilität zu sorgen. Wir tragen das Anliegen nach außen, solche Standards auch extern einzusetzen. Wir hatten Gespräche mit der EU-Kommission, die das auch gerne fördern würde. Zurzeit arbeiten wir daran, eine kleinere Gruppe von europäischen Ländern davon zu überzeugen, sich an einem solchen Projekt zu beteiligen. Die EU plant aktuell hohe Ausgaben, um ein Netzwerk namens Digital Innovation Hubs aufzubauen. Wir schauen deshalb schon jetzt nach Ländern, die später gerne mitmachen würden. Belgien-Flandern mit der Initiative Flanders Make ist bereits Mitglied, das Baskenland in Spanien hat seinen Beitritt angekündigt und auch von den Niederländern haben wir schon eine Zusage. Es gab bereits positive Rückmeldung aus Italien, jedoch ist die Situation im Moment etwas schwieriger geworden. Ich glaube, wir werden einige große Länder zusammen bekommen, die eine kompatible Anlage mit unseren Standards errichten. Was wir heute mit unserer deutschen Plattform machen, wollen wir europa- und weltweit erproben.

Industrie 4.0 wurde nie definiert. Es war ein Schlagwort, das im April 2011 zur Hannover Messe vorgestellt wurde.
Professor Detlef Zühlke | Smartfactory-KL

Diese Länder werden eigene Industriekonsortien mit eigenen Projekten starten, die dann untereinander kollaborieren?

Zühlke: Sie müssen ihre Industrie zur Kollaboration bringen, um voneinander zu lernen. Das scheinen viele verstanden zu haben. Vielleicht erwerben die Akteure die leeren Rahmen von uns, mit den ganzen Kleinteilen wie Stecker und Kabel. Und was in die Modulkästen kommt, soll ihre eigene Industrie entwickeln. Aber da dies auf Basis der Standards geschieht, die wir verwenden, sind wir untereinander kompatibel und können Module auch austauschen.

Auf einer Pressekonferenz des Bitkom hieß es kürzlich, Maschinendatenerfassung und Cloud-Anbindungen seien bereits Industrie 4.0-Technologien. Wie sehen Sie das?

Zühlke: Industrie 4.0 wurde nie definiert. Es war ein Schlagwort, das im April 2011 zur Hannover Messe vorgestellt wurde. Also die Vernetzung in der Industrie ist nichts ganz neues. Nur die vertikale und horizontale Durchgängigkeit – die wir über Standards sicherstellen – haben völlig neue Möglichkeiten eröffnet, etwa an Daten heran zu kommen, zu nutzen und wieder zurückzuspeisen. Also ich glaube, Industrie 4.0 ist die Vernetzung aller Komponenten auf der Basis einheitlicher Standards, sodass sich letztendlich alles miteinander betrachten lässt und alles miteinander kommunizieren kann.

Martin Ruskowski: Eigentlich ist es mehr ein Zeitalter, über das wir sprechen, in dem wir auf Basis von Internettechnologie immer neue Mehrwerte aus der Vernetzung von Anlagen ziehen können. Industrie 4.0 lässt sich daher auch als Philosophie einer Digitalisierung der Produktion verstehen, die letztlich sehr umfassend ist. Die Technologien dazu heißen dann etwa Edge Devices, vertikale Integration und Augmented Reality. Industrie 4.0 ist viel mehr als nur eine Technologie.

Und zwar?

Ruskowski: Es ist dieser gesamte Technologieschub, den wir momentan erleben – für mich eigentlich noch eine Spätfolge der Rechnereinführung insgesamt, also der x86-Revolution. Mir ist auch nicht wichtig, ob es eine eigene industrielle Revolution ist. Erst hatten wir die Einführung der Rechnersysteme und jetzt die neuen Kommunikationstechniken samt der ganzen Alltagstechnologien wie Mobiltelefone und die allgemeine Vernetzung. Hinzu kommen die ganzen Startup-Szenen, die wir gerade erleben. Darum geht es eigentlich.

Wir wollen Künstliche Intelligenz einsetzen, um Mensch und Maschine aneinander näher zu bringen.
Professor Martin Ruskowski | DFKI

Industrievertreter aus der ganzen Welt besuchen Ihre Demonstratoren. Interessieren sich die Besucher auch für die Auswirkungen auf Unternehmenskulturen, die mit einer intensivierten Zusammenarbeit von Firmen einher geht?

Zühlke: Es kommen sehr viele Fragen, wie wir unsere Firmen aussuchen und wie wir damit umgehen, wenn Konkurrenten aufeinandertreffen. Ich habe gelernt, dass es in einigen Ländern nicht erlaubt ist, überhaupt an einem Tisch zu sitzen. In Amerika gibt es sehr strenge Regeln, was gemacht werden darf und was nicht. Deswegen können wir auch nicht die eine Lösung erfinden, sie in die Welt hinausschicken und allen sagen, das gleiche zu tun. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Zum Glück sind unsere Mitglieder auch außerhalb Deutschlands aktiv. Wenn wir internationale Ansätze verfolgen, können andere Länder so von unseren Partnern lernen.

In welche Richtung werden Sie die Smartfactory-KL weiterentwickeln?

Zühlke: Starke Einflüsse kommen aktuell aus der Richtung der Künstlichen Intelligenz. Wir machen das zum Teil schon in der Anlage, sehen aber weit mehr interessante Ansätze. Hier geht es vor allem darum, aus Daten Informationen zu machen und aus den Informationen Wissen abzuleiten. Und das werden wir sicher sehr viel stärker in den Vordergrund stellen als in der Vergangenheit. Aber es kommen auch andere neue Technologien auf uns zu. Wir werden uns wohl intensiv mit dem Mobilfunkstandard 5G beschäftigen. Diese Technik ist zwar noch nicht vollständig marktreif, aber wir sehen hier großes Potenzial für die Industrie.

Ruskowski: Ich befasse mich auch verstärkt mit dem Thema KI. Jetzt haben wir endlich Plattformen verfügbar, um mit diesen Methoden effektiv arbeiten zu können. Wir wollen Künstliche Intelligenz einsetzen, um Mensch und Maschine einander näher zu bringen. Das betrifft eine sehr große Bandbreite von der Bedienung eines Moduls bis hin zum manuellen Arbeitsplatz. Einen zweiten Schwerpunkt sehe ich auf einem Feld, das wir horizontale Integration nennen. In der Industrie arbeiten hinter der Produktionstechnik häufig ERP-Systeme und MES-Systeme und die Frage ist, wie sich dieses Zusammenspiel künftig entwickelt. Wird es im Sinne einer horizontalen Integration möglich sein, dass ich mit der Konstruktion eines Produktes auch gleich den Produktionsplan entwerfe, ihn in den IT-Systemen ablege und dann automatisch, teilautomatisch oder manuell auf Maschinenproduktionsschritte, also auf Services von Maschinen, mappe? Das ist noch Zukunftsmusik, wir sind erst einmal mit der vertikalen Integration beschäftigt. Hierzu müssen IT-Fachkräfte eine Sicht auf die Maschine bekommen. Damit werden wir noch ein paar Jahre zu tun haben.

Der Wettbewerb zwischen den Netzwerktechnologien, wie er auf Office-Ebene ausgetragen wurde, steht der Automatisierung noch bevor – nur 20 bis 30 Jahre später.
Professor Detlef Zühlke | Smartfactory-KL

Die Smartfactory-KL befasst sich traditionell mit eher visionären Themen. Dieses Jahr geht es hauptsächlich um die Vernetzung von Bestandsanlagen. Wieso der Schwenk auf eine der ganz aktuellen Herausforderungen in der Industrie?

Ruskowski: Das ist im wesentlichen wohl unserem kürzlich gegründeten Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrum mit Projektbeteiligung von DFKI und Smartfactory-KL ‚geschuldet‘, welches vom BMWi gefördert und von Dr. Haike Frank geleitet wird. Dort haben wir mehr über die Sorgen der kleinen und mittleren Unternehmen erfahren. Diese Firmen bauen nicht gleich ein neues Werk und kaufen meist auch keine komplett neue Anlage. Also müssen wir Lösungen entwickeln, wie sich neue Technologien in kleinen Stufen einführen lassen. Unsere Partner merken ebenfalls, dass sie ihren Kunden Lösungen für solche Fälle anbieten müssen.

Zühlke: Diese Anforderung wurde uns wirklich aus mehreren Richtungen zugetragen. Erst einmal muss man einen Einblick in die Anlagen bekommen. Dafür tauchen seit ein bis zwei Jahren sogenannte Edge Devices vermehrt auf dem Markt auf. Das sind kleine Rechner, die sich etwa zwischen Maschine und die nachgelagerte IT-Infrastruktur schalten lassen. Wir haben überlegt, wie Anwender diese vielen Hersteller unter einen Hut bringen können. Entgegen der Auffassung einiger Hersteller vertreten wir die Auffassung, dass sich die Edge Devices beliebiger Anbieter miteinander kombinieren lassen müssen. Die Monokulturen, die sich manche Hersteller wünschen, gibt es draußen im Feld nicht. Es gibt viele Maschinen von unterschiedlichen Herstellern und jeder hat eine andere Präferenz für ein Edge Device. Der Anwender hat am Ende seine Cloud, wo er alle Daten zusammenfassen will. Wir wollen zeigen, wie das mit diesen Geräten funktioniert.

Ihre Forderungen nach Standardisierung dürften die amerikanischen IT-Konzerne in Ihrem Konsortium wohl unterstützen. Können diese Unternehmen der hiesigen Automatisierungswelt Nachhilfeunterricht in Sachen Interoperabilität geben?

Zühlke: Mit IBM und SAP haben wir große IT-Unternehmen mit an Bord, auch Microsoft-Technologie spielt immer wieder eine Rolle. Den Wettbewerb zwischen den Netzwerktechnologien, wie er auf Office-Ebene ausgetragen wurde, steht der Automatisierung noch bevor – nur 20 bis 30 Jahre später.

Wann wird es so weit sein?

Ruskowski: Wir werden sehen. Am Schluss wird das über den Markt und den Preis entschieden. Wenn klassisches Standard-Ethernet wirklich industrietauglich ist, wird es preisgünstiger sein. Irgendwann werden wir preiswerte Ethernettechnik bis zum kleinsten Sensor nutzen können. Dann werden eher die Fragen der Internet- und Cyber-Security zu beantworten sein. Da werden wir noch einmal bis auf die unterste Ebene aktiv werden müssen.

Zühlke: Also die Zeitskala sehe ich relativ entspannt. Die Technologie ist so aufgebaut, dass sie auf verschiedene Ebenen beschränkt werden kann. Wir werden auch in Zukunft keinen Fünf-Cent-Sensor mit Ethernet sehen und es wird auch immer per Kabel angebundene Sensoren geben. Andererseits kann ich künftig klassische Feldbusse einfach über einen günstigen Sensor auf moderne Protokolle umsetzen und existierende Anlagen so weiter nutzen. Aufgrund dieser Möglichkeiten zur Nachrüstung denke ich, dass die Technologie relativ zeitnah auf hohen Ebenen eingeführt wird.

Wir werden die aktuell vorhandene Komplexität Schritt für Schritt zusammenführen und so vereinfachen.
Professor Martin Ruskowski | DFKI

Heißt dieses Nebeneinander der Protokolle nicht, dass die Fertigungsinfrastrukturen auf lange Sicht eher noch komplexer werden?

Ruskowski: Sie sind heute bereits sehr komplex und wir werden die aktuell vorhandene Komplexität Schritt für Schritt zusammenführen und so vereinfachen.

Zühlke: Es wird sicher keine neuen Feldbusse mehr geben. Einige Feldbusse werden etwa durch Ethernet TSN ersetzt werden. Wir müssen aber das Management dieser Netzwerke bis hin zum Plug&Play erleichtern. In dem Moment, in dem wir Real-Time-Anforderungen an ein Netzwerk stellen, ist das aber gar nicht so einfach. Ich würde sagen, dass wir in den nächsten fünf Jahren einen Übergang in eine neue Welt erleben. Die alten Technologien wird es dennoch weitere 20 bis 30 Jahre lang geben, einfach weil die Anlagen solche Lebenszeiten haben.

Ruskowski: Ich sehe das ähnlich. In fünf Jahren sollte das Stand der Technik sein.

Vielen Dank für das Gespräch.


Aus der Wirtschaft in die Forschung

Nahe an der Praxis

Professor Martin Ruskowski leitet seit Juni 2017 den Forschungsbereich Innovative Fabriksysteme am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Nach seinem Elektrotechnikstudium promovierte der Wissenschaftler im Fach Maschinenbau, bevor er in vier Unternehmen der Automatisierungstechnik und des Sondermaschinenbaus arbeitete. Zuletzt verantwortete Ruskowski bei Kuka Industries die Abteilung Forschung und Entwicklung im Bereich der Robotik und des Anlagenbaus. Mit diesen Erfahrungen will Ruskowski in Zukunft sicherstellen, dass sich die Smartfactory-KL konsequent an den Herausforderungen der industriellen Praxis orientiert.