Smart Industry und Zukunftsprojekt Industrie 4.0

Industrie 4.0 auf niederländisch

Auch niederländische Produzenten haben sich auf den Weg zur vierten industriellen Revolution gemacht. Das Pendant zur Initiative ‚Zukunftsprojekt Industrie 4.0‘ heißt dort Smart Industry. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Initiativen und der Verfassung der Unternehmenslandschaft erörtern die drei Branchenkenner Peter van Harten vom niederländischen ERP-Hersteller Isah, Professor Egbert-Jan Sol von der Smart Industry selbst und Volker Schnittler, ERP-Experte beim VDMA.

Volker Schnittler, Fachreferent Unternehmens-Software des VDMA e.V. und Mitglied im Forschungsbeirat des FIR Aachen
Volker Schnittler, Bild: VDMA
Peter van Harten, Partner Group Direktor Isah Business Software und Vorsitzender der Arbeitsgruppe International der Smart Industry
Peter van Harten, Bild: Isah
Professor Egbert-Jan Sol, Program Director der Smart Industry und CTO bei der TNO Industry
Prof. Dr. Egbert-Jan Sol, Bild: Smart Industry

Welchen Ansätzen folgen die deutsche Initiative Industrie 4.0 und die niederländische Smart Industry?

Volker Schnittler, VDMA: Die Industrie 4.0-Initiative kommt aus einer produktionstechnischen Richtung, welche auf Automatisierung fokussiert ist und stark von den Automatisierungsanbietern in Deutschland dominiert wird. Dieser Ansatz wird zunehmend durch die allgemeine Diskussion zur Digitalisierung verschoben. Damit weitet sich der Fokus aktuell etwa in Richtung Logistik, neuer Geschäftsmodelle aber auch gesellschaftspolitischer Fragen.

Professor Dr. Ing. Egbert-Jan Sol, Smart Industry: Zunächst war da sicher die IT-Industrie und erklärte, dass Cloud-Systeme das wichtigste seien – um die Datenflut zu speichern und um kollaborativ arbeiten zu können. Wir von der Smart Industry haben aber als erstes die Unternehmen des Mittelstands zu ihren Erwartungen befragt. Da wurde sehr schnell klar, dass niemand weiß, wie das Business in fünf Jahren aussieht. Aber sicher ist, dass die Anforderungen von Kunden steigen, dass die Einzelfertigung zu Kosten der Serienproduktion realisierbar sein muss. Lieferzeiten sollen immer kürzer werden, Produktionskosten gesenkt und der Service ausgebaut werden. Dafür werden Lösungen erwartet.

Peter van Harten, Isah GmbH: Im Fokus steht die Zusammenarbeit in einem Netzwerk – vom Zulieferer bis zum Kunden. Ziel ist, dass die Niederlande 2021 das flexibelste und beste digitale Produktionsnetzwerk in Europa haben. Deutschland nimmt bei diesen Plänen eine zentrale Rolle ein.

Industrie 4.0-Vorhaben scheinen in Unternehmen oft als eine Art geschlossener Prozess abzulaufen. Wie sieht das bei Smart Industry aus?

Sol: Der Ansatz der Smart Industry ist es, in einem Netzwerk zusammenzuarbeiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass es in den Niederlanden viele kleine und mittelständische Unternehmen gibt – es gibt bei uns nicht so viele Unternehmen der Größenordnung Shell oder Philips. Entsprechend gibt es ein großes Netzwerk kleiner Zulieferer. Die Zusammenarbeit in einem solchen Netzwerk ist aber nicht hierarchisch, dies hängt auch mit unserer kulturellen Entwicklung zusammen.

Schnittler: Von einem geschlossenen Prozess bei Industrie 4.0 kann man tatsächlich in der Hinsicht sprechen, als einzelne Unternehmen Projekte zunächst alleine angehen, wenn sie als Grundlage für die nachhaltige Weiterentwicklung eingeschätzt werden. Allerdings ist auch hier zu beobachten, dass kollaborative Ansätze an Fahrt gewinnen.

Erfolgt die Umsetzung der Initiativen eher top-down oder doch umgekehrt?

Schnittler: Da bei Industrie 4.0 die Initiative von der Politik ausging, kann man von einem Top-Down-Ansatz sprechen. Zudem erfordern große Investitionsvolumen natürlich Befürworter im Top-Management. Es entstehen mittlerweile jedoch zahlreiche Praxisbeispiele, die durchaus als Erfolgsmodelle dienen können. Der VDMA sieht hier seine Rolle als Moderator des Austauschs und der Weiterentwicklung.

Sol: In den Niederlanden war die Politik nicht der Treiber und es standen auch nur sehr begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Wir haben zunächst eine Agenda erstellt und das Bewusstsein für die Anforderungen des Mittelstands geschaffen. Heute lernen Berufsschüler bereits im Unterricht Smart Industry kennen. Wir haben dabei auch viel von den Deutschen gelernt und die Anfangsfehler der Industrie 4.0 vermieden.

Um die vierte industrielle Revolution in Gang zu bringen, sind Schätzungen zufolge Investitionen in Milliardenhöhe erforderlich. Noch scheint sich die Industrie zurückzuhalten.

Sol: Das holländische Kabinett hat zunächst entschieden, keine Förderung für Smart Industry bereitgestellt. Vielleicht ändert sich das, aber zunächst konnten darüber keine Investitionsanreize geschaffen werden, wir haben in die Ausbildung investiert. Doch mittlerweile haben sehr viele Unternehmen die Vorteile erkannt, die Ihnen Smart Industry bietet und investieren in erheblichem Umfang in die Umsetzung.

Schnittler: Die insgesamt hohen Investitionen, die vorhergesagt werden, erklären sich aus der Größe der deutschen Volkswirtschaft. Man ist sich in den Unternehmensführungen durchaus über die Bedeutung der Veränderungen im Klaren – rechnet aber einerseits mit hohen Investitionsvolumina und andererseits mit einem länger andauernden Umsetzungsprozess. Allerdings etablieren sich neuerdings in den Projekten zunehmend moderne, agile Methoden wie Scrum und die typisch deutsche Perfektion wird etwas aufgeweicht von dem Verständnis für ‚fail early‘.

Van Harten: Wir sehen bereits sehr erfolgreiche Kundenprojekte. Durch die Digitalisierung und Vernetzung von Produktionsmitteln und Organisation lassen sich Durchlaufzeiten drastisch reduzieren. In der Wertschöpfungskette wird nicht mehr auf Vorrat produziert, sondern auf individuelle Kundenanforderung hin. Die Lieferzeit für individuell konfigurierte Produkte entspricht heute der Zeit, die vorher für die Fertigung von Serienprodukten benötigt wurde.

Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Industrie 4.0 und Smart Industry?

Sol: Eine Gemeinsamkeit ist sicher der Ansatz, Synergien innerhalb der jeweiligen Volkswirtschaft zu nutzen. Beiden Ansätzen liegen die Notwendigkeit und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und internationalen Vernetzung in den wirtschaftlich führenden Nationen zugrunde. Kooperationen zwischen dem niederländischen Smart Industry-Programm, dem deutschen Industrie 4.0-Projekt und der belgischen Factory of the Future-Initiative sind deshalb fester Bestandteil unserer Agenda. Ein Problem ist der sichere Datenaustausch zwischen unterschiedlischen Systemen. Hier sind Strategien auf europäischer Ebene gefragt. Die Fraunhofer Gesellschaft arbeitet beispielweise in dem Projekt ‚Industrial Data Space‘ an dem sicheren Austausch von Daten in Wertschöpfungsnetzwerken verschiedener Systeme.

Schnittler: Prinzipiell sind die niederländische und die deutsche Industrie, abgesehen von ihrem Wirtschaftsvolumen, relativ ähnlich aufgestellt. Niederländische Firmen adressieren als Hightech-Premiumanbieter einen internationalisierten und vom Wettbewerb geprägten Markt. Smart Industry und Industrie 4.0 bilden da Strategien, sich wettbewerblich abzusetzen und den eigenen Erfolg nachhaltig zu sichern. Beide Modelle haben auch gemeinsam, dass sie Awareness schaffen wollen und dass sie sehr stark auf Forschung und Entwicklung, sowie auf Qualifizierung der Beteiligten setzen.

Van Harten: Da unsere ERP-Lösung in den Niederlanden und in Deutschland von vergleichbar aufgestellten Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus eingesetzt wird, kennen wir die Anforderungen der Unternehmen und beide Initiativen sehr genau. Es gibt hier große Gemeinsamkeiten in dem Bestreben die internen Prozesse maximal zu automatisieren, den Kundenservice zu optimieren und die Lieferkette umfassend zu integrieren. Die internationale Zusammenarbeit, mit einem Schwerpunkt in Europa auf Deutschland, Belgien, Niederlande, ist dabei wichtig.

Welche Anforderungen stellen die neuen Fertigungsstrukturen an ERP-Systeme?

Schnittler: Industrie 4.0 ist nur mit einer modernen ERP-Lösung realisierbar. Den Rahmen dafür steckt ja die Idee von Industrie 4.0 beziehungsweise Smart Industry: Intelligente Vernetzung vom Engineering über die Produktion und Logistik bis hin zum Produkteinsatz einschließlich zugehöriger Services. Alles ist in Echtzeit verbunden mit dem Unternehmensmanagement und koordiniert mit Kundenwünschen, Marktbedingungen, Partnern und Zulieferern – alles ist mit allem digital vernetzt.

Sol: Individuelle Kundenwünsche beim Design, der Planung und Produktion müssen auch bei Kleinstmengen, bis zur Losgröße 1, rentabel zu produzieren sein. Maschinen auf Fabrikebene sind flexibel, aber den administrativen Aufwand wirtschaftlich zu gestalten, den Order Flow zu automatisieren, dass ist die Herausforderung. Das gelingt nur mit einem ERP-System, das die gesamte Lieferkette integriert und die Prozesse automatisiert.

Van Harten: Das ERP-System muss in der Lage sein, die komplexen Produktions- und Lieferanten-Netzwerke zu unterstützen, wie sie beispielsweise im Maschinen- und Anlagenbau zu finden sind, und eine hohe Informationstransparenz in Echtzeit bieten. Flexibilität in der Produktion und bei der Leistungserbringung, vornehmlich Services, zu jeder Zeit an jedem Ort, wird erwartet.







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