Fräsen ohne Ratterschwingungen

Mit kombinierten Modellen Stabilitätsgrenze ermittelt

Zerspaner investieren viel Zeit in Parametrierungen, um möglichst schnell und ohne Ratterschwingungen zu fräsen. Forschende am IFW arbeiten an einem Verfahren, die Stabilitätsgrenzen eines Fräsprozesses mit deutlich reduziertem Aufwand zu ermitteln.

Analytisch berechnete Stabilitätskarte zur Vorhersage von Ratterschwingungen (Bild: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover)
Analytisch berechnete Stabilitätskarte zur Vorhersage von Ratterschwingungen (Bild: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover)

Um unerwünschte Schwingungen, die sogenannten Ratterschwingungen, im Fräsprozess zu vermeiden und gleichzeitig die bestmögliche Produktivität zu erzielen, muss das dynamische Prozessverhalten bereits bei der Prozessauslegung bekannt sein. Bislang werden dafür komplexe Simulationsmodelle verwendet. Damit können jedoch nicht alle Einflüsse im Prozess berücksichtigt werden. Datenbasierte Modelle nutzen hingegen reale Prozessinformationen, um Zusammenhänge zwischen Prozessparametern und Prozessstabilität zu erlernen. Allerdings ist die Erfassung dieser Daten zeit- und kostenintensiv. Am Institut für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) der Leibniz Universität Hannover wird daher an der Kombination von physikalischen Modellen mit datenbasierten Algorithmen geforscht.

Unerwünschte Effekte

Für die analytische Vorhersage der Schwingungen wurden bislang physikalische Modelle entwickelt, die den Zusammenhang zwischen den Prozesskräften, dem dynamischen Systemverhalten und dem Auftreten von Ratterschwingungen beschreiben. Diese Modelle ermöglichen die analytische Berechnung sogenannter Stabilitätskarten (Bild 1). Anhand dieser Karten können Prozessparameterwerte ausgewählt werden, die zu einem produktiven und stabilen Prozess führen. Für eine möglichst exakte Abbildung des Maschinenverhaltens müssen die physikalischen Modelle für jede Prozesskonfiguration parametriert und die Stabilitätskarten neu berechnet werden. Kleine Fehler können zu deutlichen Unterschieden bei der Ermittlung der Stabilitätsgrenzen führen. Im Fall von Modellvereinfachungen weichen die reale und berechnete Stabilitätsgrenze voneinander ab.

Rattervorhersage durch ML

Aufgrund der hohen Fehleranfälligkeit von analytischen Modellen, wurde in den letzten Jahren zunehmend an der datenbasierten Vorhersage der Prozessstabilität durch maschinelles Lernen (ML) geforscht. Dabei werden die Prozessparameter gemeinsam mit dem resultierenden Schwingungsverhalten während der Bearbeitung erfasst und in einer Datenbank gespeichert. Anschließend werden ML-Modelle verwendet, die den Verlauf der Stabilitätsgrenze auf Basis der aufgezeichneten Daten annähern. Durch die Verwendung realer Prozessdaten können die ML-Modelle eine hohe Übereinstimmung mit dem realen Verlauf der Stabilitätsgrenze erzielen. Durch den typischerweise komplexen Verlauf der Stabilitätsgrenze benötigen die ML-Modelle jedoch sehr viele Informationen über den Einfluss unterschiedlicher Prozessparameter und Parameterwerte auf die Prozessstabilität, um zu guten Ergebnissen zu gelangen. Während der Bearbeitung werden die Prozessparameter meist konstant gehalten. Um eine ausreichende Datenmenge und -variation zu generieren, sind daher zusätzliche Versuche notwendig. Damit wird das Training von maschinellen Lernmodellen zur Vorhersage von Ratterschwingungen zeit- und kostenintensiv. Trainierte Modelle sind bislang zudem nur für eine spezielle Kombination aus Werkzeugmaschine, Werkzeughalter, Werkzeug und Werkstoff gültig.

Kombination aus analytischen und datenbasierten Modellen (Bild: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover)
Kombination aus analytischen und datenbasierten Modellen (Bild: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover)

Vorwissen bislang unbeachtet

Bei der datenbasierten Ermittlung von Stabilitätskarten werden aus den Ingenieurswissenschaften bereits bekannte physikalische Zusammenhänge bislang völlig vernachlässigt. Durch Vorwissen über den ungefähren Verlauf der Stabilitätsgrenze aus analytischen Berechnungen kann die Menge an benötigten Daten jedoch deutlich reduziert werden. Genau hier setzen die Forschenden am IFW an. Durch die Kombination von ingenieurwissenschaftlichem Vorwissen über physikalische Wirkzusammenhänge und datenbasierten ML-Methoden werden Stabilitätsmodelle fortlaufend verbessert und Stabilitätsgrenzen an die Realität angepasst.

Mit wenig Daten zur Rattervorhersage

Erste Untersuchungen am IFW zeigten das Potenzial dieser Kombination bereits auf (Bild 2). In grau ist eine experimentell durch Rampenfräsprozesse mit variierenden Schnittgeschwindigkeiten ermittelte Stabilitätsgrenze für einen Schaftfräser mit dem Durchmesser D = 8mm in Stahl C45 dargestellt. In Bild 2A wird der Verlauf der analytisch berechneten Stabilitätsgrenze dargestellt. Die Drehzahlen an denen Stabilitätspeaks auftreten, stimmen bis zu einer Drehzahl von ca. n = 5.000 1/min mit der experimentell ermittelten Stabilitätskarte näherungsweise überein. Der höchste Stabilitätspeak bei einer Drehzahl von ca. 5.200 1/min ist in der analytischen Stabilitätskarte nicht vorhanden. Zur Vereinfachung wurde die Prozessdämpfung bei der Berechnung vernachlässigt, weshalb die analytisch bestimmte Stabilitätsgrenze deutlich unterhalb der experimentell ermittelten liegt. Die Berücksichtigung der Prozessdämpfung in den analytischen Modellen erfordert zusätzliche experimentelle Untersuchungen und komplexere Simulationsmodelle. Diese sind bislang noch Gegenstand der Forschung. Die Stabilitätsgrenzen in Bild 2b wurde hingegen durch eine Support-Vektor-Regression (SVR) ohne Vorwissen angelernt. Wie in der Abbildung zu sehen, wird zwar der höchste Stabilitätspeak durch das Modell approximiert. Die Peaks und Täler im niedrigeren Drehzahlbereich werden jedoch nicht erfasst. In der Praxis wird der für die Bearbeitung zulässige Drehzahlbereich häufig eingeschränkt, um überhöhten Werkzeugverschleiß zu vermeiden. Da das Modell alle Peaks außer dem Maximum bei ca. 5.200 1/min glättet, wäre das Stabilitätsmodell in solchen Fällen für die Wahl optimaler Bearbeitungsparameter ungeeignet. Für die in Bild 2c dargestellte Stabilitätsgrenze wurde hingegen die analytisch berechnete Stabilitätskarte als initiales Modell verwendet. Durch die SVR werden lediglich die Abweichungen zwischen dem analytischen Modell und den realen Messungen erlernt. Das trainierte Modell wird anschließend auf die existierende analytische Stabilitätskarte addiert. Die stabilen Parameterkombinationen in den Trainingsdaten liegen alle oberhalb der analytisch ermittelten Stabilitätsgrenze. Durch die datenbasierte Anpassung wird die Stabilitätsgrenze daher um ca. 0,8mm nach oben verschoben, sodass sie mit einem maximalen Fehler von ca. 0,5mm im Bereich der Extremwerte bei den Drehzahlen unterhalb von 5.000 1/min gut mit der experimentell ermittelten Stabilitätsgrenze übereinstimmt. Bei ca. 5.200 1/min ist die Abweichung zwischen analytisch berechneter und experimentell ermittelter Stabilitätsgrenze mit mehr als 3mm besonders groß. Durch das datenbasierte Modell wird diese Abweichung deutlich reduziert, sodass die maximalen Stabilitätspeaks von Modell und Experiment nur um ca. 150 1/min voneinander abweichen. Mit nur fünf Datenpunkten wurde so ein Stabilitätsdiagramm, das alle Maxima und Minima des experimentell ermittelten Stabilitätsdiagramms abbildet, erstellt.

Die lernende Maschine

Durch die Kombination aus analytischen Modellen und maschinellem Lernen kann die Stabilitätsgrenze mit wenigen Daten so angenähert werden, dass alle Maxima und Minima aus der experimentell ermittelten Stabilitätsgrenze in guter Annäherung abgebildet werden. Mess- und Modellfehler bei der Ermittlung der analytischen Stabilitätsgrenze können durch die Ergänzung mit datenbasierten Modellen kompensiert werden. Für den Einsatz so kombinierter Modelle in der Praxis werden am IFW Methoden zur Erfassung von Trainingsdaten im Prozess erforscht. Zudem wird untersucht, wie etwa Wissen aus vorangegangen Prozessen oder dem im Prozess erfassten Schwingungsverhalten, genutzt werden kann, um die Modellgenauigkeit weiter zu erhöhen.

Die Autoren danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Unterstützung der Projekte intelligente Werkzeugmaschine (Projektnummer: 385522239) und lernende Werkzeugmaschine (Projektnummer: 445811009)