Teil 2: Wie autonom soll das System für uns sein?

An der Schwelle zwischen Automatisierung und Autonomie

Im zweiten Teil unserer VDI-Serie zu autonomen Systemen und künstlicher Intelligenz geht es um die Frage, wie autonom unsere Systeme überhaupt sein sollen. Im Interview der Reihe spricht Dr. Eckhard Roos, Leiter Industry Segment Management Process Automation bei Festo, Mitglied des Vorstands der VDI/VDE-GMA, außerdem über den feinen Unterschied zwischen Autonomie und Automatisierung.

Bild: Dr. Hans Eckardt Roos, VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V.
Bild: Dr. Hans Eckardt Roos, VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V.

VDI: Herr Dr. Roos, lassen Sie uns direkt mit der zentralen Frage beginnen: Wie autonom sollen unsere Systeme sein?

Dr. Eckhard Roos: Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten, denn die Autonomie wird zukünftig verschiedenste Anwendungen durchdringen, vom Verkehr über die Mobilität bis hin zu industriellen Applikationen. Für die Bewertung des Grades der Implementierung hat sich eine Taxonomie etabliert, die z.B. beim selbstfahrenden Auto und auch in industriellen Anwendungen sechs Stufen beinhaltet – von Anlagen ohne autonome Funktionen bis hin zu vollständig autonom arbeitenden Systemen. Sie haben aber gefragt, wie autonom ein autonomes System sein soll. Die Antworten werden z.B. für die beiden genannten Bereiche Industrie und Autonomes Fahren unterschiedlich ausfallen.

VDI: Weshalb?

Roos: In der Industrie wird sicherlich die Wirtschaftlichkeit der autonomen Systeme das entscheidende Kriterium für die Implementierung und Nutzung sein. Anlagen werden nicht autonom gemacht um der Autonomie willen, sondern nur dann, wenn es wirtschaftlich sinnvoll erscheint. Und die Vorteile, die man sich von der Autonomie verspricht – sprich Optimierung von Qualität, Zeit und Ressourcen oder kürzere Innovationszyklen – lassen sich gut monetär bewerten. Beim mobilen Fahren ist die Antwort schon schwieriger. Hat ein Autofahrer Freude am Fahren, wird er sicherlich eine geringe Sinnhaftigkeit im autonomen Fahren sehen. Autonomes Fahren lässt aber viele Vorteile erwarten, nämlich bessere Verkehrsflüsse, Vermeidung von Unfällen, Reduktion von Emissionen usw. Durch die Autonomie kann man auch die Geschwindigkeit der Fahrzeuge nach den Verkehrsvorgaben regulieren. Die Vorteile können aber nur dann durchgängig erreicht werden, wenn alle mitmachen – was ist dann z.B. mit Oldtimern? Und wahrscheinlich wird erstmal eine intensive Debatte über die Bevormundung von Bürgern im Verkehr durch autonomes Fahren geführt werden. Dabei liegen die Vorteile wie reduzierte Emissionen, weniger Unfälle mit Schäden und Folgekosten aus meiner Sicht auf der Hand.

VDI: Wie autonom ein autonomes System sein soll, ist also auch eine Frage der Akzeptanz?

Roos: Ja, mit Sicherheit. Wobei sich die Frage der Akzeptanz in der Industrie nicht so intensiv stellen wird wie im privaten Bereich. In der Industrie ziehen wirtschaftliche Kriterien. Autonome Systeme werden sicherlich den einen oder anderen Arbeitsplatz überflüssig machen, dafür bieten sich neue Aufgaben, die eine höhere Qualifikation erfordern. Das setzt allerdings die Fähigkeit und den Willen voraus, sich diesen neuen Themen mit wahrscheinlich höheren Anforderungen zu stellen. Im privaten Bereich – das zeigt die Erfahrung aus der Vergangenheit – wird genutzt, was einen Vorteil verspricht oder eine Vereinfachung im täglichen Leben ermöglicht.

VDI: Sie sprachen von der Taxonomie der Autonomie. Welche Kriterien greifen hier bei der Einstufung in die unterschiedlichen ‚Autonomie-Level‘?

Roos: Momentan wird für die Einstufung in einen bestimmten Grad der Autonomie nur die Intensität des menschlichen Eingriffs herangezogen. Das führt dazu, dass Systeme schon als autonom gelten, wenn sie auf Basis von programmierten Regeln Abweichungen im Prozess erkennen – oder das Zusteuern auf vorgegebene Grenzen erkennen und entsprechend gegensteuern. Der Verband der Automobilingenieure spricht z.B. nicht von autonomem Fahren, sondern von automatisiertem Fahren. Dies trifft es aus meiner Sicht besser, denn die Regeln etwa eines Spurhalteassistenten werden von Ingenieuren definiert und das System führt nach diesen Regeln die Überwachung des Fahrens und gegebenenfalls die Korrektur oder Warnung des Fahrers aus, jedoch immer auf Basis definierter Regeln. Oder ein Beispiel aus unserem Haus: Festo hat eine neue digitale Ventilinsel im Portfolio. Auf einer Hardwareplattform können durch Apps verschiedenste Funktionen umgesetzt werden, die entsprechende Regeln enthalten. Man kann etwa die Länge eines Arbeitstakts eines pneumatischen Antriebs digital vorgeben. Das System unterrichtet sich dann selbstständig, wie der Aufbau des Druckprofils erfolgen muss, damit die Vorgabe erreicht wird. Hierdurch wird die Inbetriebnahme autonom durchgeführt. Im Betrieb überwacht das System die Taktzeiten und adaptiert diese eigenständig. Und es wird natürlich ein Trigger für die Wartungsmannschaft wegen der Veränderungen im Prozess ausgelöst. Wenn jetzt noch Roboter die Wartung ausführen würden, wären wir bei der autonomen Fabrik.

VDI: Ist Autonomie dann nichts anderes als ein hoher Grad der Automatisierung?

Roos: In vielen Bereichen ist das so, denn letztendlich legen Menschen die Regeln und Grenzen fest, nach denen diese Systeme Prozessabläufe durchführen. Aber wenn wir alle Potenziale der Autonomie nutzen wollen, müssen wir weiter denken und gehen. Machine Learning als Teil der KI bietet z.B. die Möglichkeit, auf Basis vorhandener Datenbestände von Produktionen, den Programmieraufwand für die Erkennung von Anomalien zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. Und die Grenzen zum Erkennen der Anomalien sind nicht fix, sondern sie werden durch das System einmal erlernt und dann später auch angepasst. Die Analyse industrieller Use Cases zeigt uns, dass in nicht allzu ferner Zukunft der Ausfall einer Komponente auf Basis gemessener Performance-Parameter vorhergesagt werden kann. Das geht deutlich über die Automatisierung hinaus. Dieses Beispiel zeigt den Wert von KI als Grundlage für die zukünftige Autonomie und auch für die Implementierung von speziellen Wartungsstrategien wie z.B. Predictive Maintenance. Allerdings ist hierfür ein qualitativ hochwertiger Pool von Daten für die Realisierung autonomer Systeme erforderlich, wenn KI genutzt werden soll, um die Lücke zwischen limitiertem menschlichem Programmieraufwand und den Optimierungspotenzialen in Anlagen zu schließen.

VDI: Stehen diese Daten derzeit im industriellen und privaten Bereich nicht zur Verfügung? Und gibt es da Unterschiede?

Roos: Ja, da gibt es in der Tat deutliche Unterschiede, die wir im täglichen Leben teilweise selbst erleben. Autonome Systeme benötigen einen qualitativ hochwertigen Datenpool, auf dessen Basis dann die Systeme trainiert werden und so im Betrieb Anomalien schnell und einfach detektieren können. Ein Problem für Betreiber ist, dass die Anlagen manchmal weltweit Unikate sind. Es gibt also keine übergreifenden Datenpools von weiteren Anlagen. Wir als Komponenten- und Systemlieferant sind daran interessiert, weltweit möglichst viele Daten von unseren Produkten zu bekommen – von möglichst allen Kunden. Hier verhindern oftmals Misstrauen und das sicherlich nachvollziehbare Argument des Knowhow-Schutzes ein vernünftiges unternehmensübergreifendes Daten-Pooling. Schutzbedürfnis und Nutzen durch z.B. technologischen Fortschritt widersprechen sich hier und verhindern Innovation oder verzögern diese zumindest. Ganz anders stellt sich die Situation im privaten Bereich dar. Wenn wir einen Vorteil in verschiedenen Applikationen sehen, wie z.B. Suchmaschinen oder Social Media, nehmen wir die Nutzung unserer Daten relativ klaglos hin. Und wir können nur begrenzt kontrollieren, in welcher Form die Daten durch wen wie genutzt werden.

VDI: Kann zu viel Autonomie in industriellen Anwendungen auch schaden?

Roos: Autonome Systeme sollen zunächst die Produktion optimieren. Wir haben auch heute schon hochgradig automatisierte Anlagen. Und wir haben Sicherheitseinrichtungen, die die Anlage bei einem unvorhergesehenen kritischen Anlagenzustand wieder zurück in einen sicheren Zustand versetzen – unabhängig vom Grad der Automatisierung. Diese Sicherheitseinrichtungen werden auch künftig eine sichere Produktion gewährleisten und dazu beitragen, die Akzeptanz der Autonomie zu erhöhen. Zusätzlich kommen weitere Fragestellungen dazu: Wie stelle ich etwa sicher, dass die Trainingsdaten für Machine-Learning- oder Deep-Learning-Tools die gewünschte Produktion hinreichend charakterisieren? Was passiert, wenn wir feststellen, dass das System nicht die beabsichtigte Vorgehensweise der Prozessführung umsetzt und definierte Systemgrenzen verletzt? Mit der Suche nach diesen Antworten werden Hochschulen und R&D-Abteilungen auch auf lange Sicht noch sehr gut ausgelastet sein.


Serie: Zehn Fragen zu KI und autonomen Systemen

Künstliche Intelligenz (KI) und autonome Systeme sind in vielen Bereichen der Industrie, der Logistik und des Verkehrs untrennbar miteinander verknüpft. Allein und in Kombination bergen sie große wirtschaftliche Potenziale, bringen aber auch Risiken mit sich. Die Arbeitsgruppe ‚Autonome Systeme‘ der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (VDI/VDE-GMA) hat zehn Fragen zusammengetragen, die es zu beantworten gilt, um KI wirtschaftlich erfolgreich zu machen:
1. Wie können wir das autonome System beherrschen?
2. Wie autonom soll das autonome System für uns sein?
3. Wie machen wir das autonome System autonom?
4. Wie nachvollziehbar muss das Verhalten eines autonomen Systems sein?
5. Wie kann man autonome Systeme vergleichen?
6. Wie zuverlässig ist das lernende autonome System?
7. Wie effizient ist das autonome System?
8. Wie sicher ist das autonome System?
9. Wo sind die Grenzen des autonomen Systems?
10. Welchen Werten folgt das autonome System?