Fallstricke und Chancen der Fernimplementierung

Verstehen statt raten

Lassen sich MES-Projekte aus der Ferne realisieren? Ja, wenn die Herausforderungen bekannt sind und alle Beteiligten sie aus ihrer Sicht adressieren. Auch nach der Pandemie dürften die gewonnenen Erkenntnisse zu veränderten IT-Implementierungen führen.

Bild: ©Cavan/stock.adobe.com
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Durch die Einschränkung persönlicher Kontakte greifen Unternehmen auf digitale Tools zurück, um mit Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern zu kommunizieren. Wie gelingt es aber, ein Manufacturing Execution System (MES) einzuführen, wenn zwischen den Partnern nur digitale Kommunikation möglich ist und die Remote-Einführung quasi erzwungen wird? Auch vor der Pandemie wurde kaum ein MES vollständig offline eingeführt. So ist die Nutzung einer Private Cloud zum Austausch von Unternehmensdaten sowie die Onlinevergabe von Zugangsberechtigungen und -Zugriffsrechten gang und gäbe. Präsentationen und Workshops zur Dokumentation der Anforderungen wurden hingegen eher onsite durchgeführt, die Einführungsbetreuung und Schulungen ebenfalls. Diese Arbeiten wurden pandemiebedingt ins Internet verlegt, neben der Systemumsetzung und -installation.

Austausch ohne Anschauen

Die Herausforderung liegt in der Kommunikation. Sie funktioniert online anders als im persönlichen Gespräch. Die non-verbale Kommunikation fällt schwer bis aus, wenn etwa eine Videoverbindung abbricht. Es dauert länger, seine Gegenüber einzuschätzen und zu verstehen, was sie meinen. Es entsteht ein Freiraum für Interpretationen. Diesen Freiraum gilt es stetig zu schließen, um eine für beide Seiten adäquate Lösung zu finden.

Bedeutung der Dokumentation

Um diesen Interpretationsspielraum zu reduzieren, kommt der Dokumentation eine gestiegene Bedeutung zu. Im Anforderungsprofil werden über mehrere Workshops hinweg die Einzelheiten etwa zur Maschinenanbindung und Fertigungssteuerung, zur Planung, zum Reporting, zur ERP-Schnittstelle oder zur Rückverfolgbarkeit (Traceability) festgehalten und in einem Lastenheft zusammengetragen. Der MES-Anbieter konfiguriert daraufhin ein System und bespricht mit dem Anwender die Funktionalitäten und Workflows. Die Ergebnisse fließen ins Pflichtenheft. Um wenig Spielraum für Interpretationen zu lassen, wird eine möglichst detaillierte Dokumentation angestrebt. Sie stößt jedoch zwangsläufig an Grenzen, denn nicht alles kann oder soll dokumentiert werden. Darüber hinaus müssen Online-Workshops zeitlich kürzer gehalten werden. Länger als vier Stunden pro Tag sollten sie nicht dauern. Außerdem fallen informelle Gespräche unter den Teilnehmern weg, etwa in Pausen. Abgesehen vom Small Talk, der auch dazu dient, sich besser kennenzulernen, wird der informelle persönliche Austausch vor allem dazu genutzt, Verständnisfragen zu stellen oder spezifische Themen anzusprechen, die wiederum für ein besseres gegenseitiges Verständnis sorgen. Dieses Verständnis muss sich innerhalb der Workshops ausprägen. Die Folge: Der Zeitaufwand für die Dokumentation steigt.

Sprachliche Barrieren

Zusammen mit dem MES-Anwender werden im nächsten Schritt aufeinander aufbauende Arbeitspakete für eine sukzessive Systemeinführung entwickelt. Der Unterschied bei einer Remote-Einführung wird insbesondere durch sprachliche Barrieren deutlich. Natürlich ist eine Kommunikation auf Englisch möglich, aber remote fehlt die Option, seinem Gegenüber zu zeigen, was man meint. Anstatt einen Arbeitsprozess an einer Maschine zu verdeutlichen, muss er online erklärt werden. Selbst wenn beide Seiten exzellent Englisch sprechen und verstehen können, braucht es online seine Zeit, bis eine gemeinsame Sprache gefunden wird, denn hier kommunizieren Spezialisten unterschiedlicher Domänen miteinander. Diese Barriere wird insbesondere bei der gemeinsamen Hardware-Inbetriebnahme deutlich, wenn der MES-Anwender erste Maschinen anschließt und die dokumentierte Logik in die Praxis umsetzen muss. Normalerweise stünde ein IT-Systemtechniker des MES-Anbieters zur Seite, remote nicht. Stattdessen überprüft der Techniker online die Offline-Arbeitsschritte des Anwenders. Auch das dauert länger. Der größere Zeitaufwand in den Projektphasen einer Remote-MES-Einführung schlägt sich einerseits in steigenden Kosten nieder. Benötigten Firmen für die Einführung in der Vergangenheit bis zu einem Jahr, muss bei einer Remote-Einführung mit einem zusätzlichen Aufwand von bis zu drei Monaten gerechnet werden – abhängig von der Komplexität des Systems. Andererseits entfallen Reisetage und -kosten. Die Projektmitarbeiter sind produktiver, da sie ihre Zeit effizienter nutzen. Es gilt also abzuwägen, wie hoch der Remote-Anteil bei einer MES-Einführung sein kann – getreu dem Motto: so viel online wie möglich, so viel offline wie nötig.

Mix aus on- und offline

Trotz der geschilderten Unwägbarkeiten einer MES-Installation aus der Ferne scheint eine Rückkehr zu den ursprünglichen Methoden unwahrscheinlich. In Zukunft dürfte sich ein Mix aus Remote- und Onsite-Elementen als Standard etablieren. Remote-Arbeitsschritte gehen bei der Systemeinführung einer MES-Software umso schneller von der Hand, je tiefgreifender in der Akquisephase des Projekts ein gegenseitiges Verständnis entsteht. Mit der Zeit wird der Remote-Anteil weiter ansteigen, zumal die Digitalisierung in der Kommunikation gerade durch die Pandemie einen Schub erfahren hat. Technische Innovationen wie Augmented Reality werden diese Entwicklung weiter beschleunigen, was das Verhältnis zwischen gestiegenem Zeitaufwands und effizienterer Arbeitszeitnutzung weiter ins Plus verschieben dürfte.