MES-Projekte enden nicht mit dem Go-Live

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Viele MES-Wegweiser wollen Firmen mit Leitfäden und Checklisten helfen, ein MES-Projekt In-Time und In-Budget abzuwickeln. Leider schließt die Literatur zu oft mit dem Go-Live. Was ist mit dem Leben danach?

 (Bild: Carl Zeiss MES Solutions GmbH)
(Bild: Carl Zeiss MES Solutions GmbH)

Schaut man aus der Vogelperspektive auf Industrie 4.0, ähneln die prognostizierten Cyber-Physical Systems einem sich ständig wandelnden Kaleidoskop. Werkstücke und Produktionsmittel kommunizieren in zwangloser Anarchie und Produktionsreihenfolgen purzeln wie zufällig durcheinander. Wie von Geisterhand finden die intelligenten Bauteile ihren Weg durch die Fertigung und wandeln sich Schritt für Schritt zu einem qualitativ hochwertigen Endprodukt. Grundlage des kreativen Kommunikationschaos ist keineswegs Magie, sondern ein über alle Wertschöpfungsebenen hochvernetztes Manufacturing-Execution-System. Als Schaltzentrale interagiert es mit allen Prozessteilnehmern und sorgt auf diese Weise für die notwendige Automatisierung und Flexibilität. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Lastenhefte nahezu aller MES-Ausschreibungen beeindruckende Ausmaße besitzen. Schließlich gilt es, ein enorm leistungsfähiges und vor allem zukunftsfähiges System zu evaluieren. Leider wird dabei oftmals vergessen, dass Funktionsumfang, Integrations-Kompetenz und Branchen-Know-how alleine nicht reichen, um einer weiteren 4.0-Forderung Rechnung zu tragen: der Wandlungsfähigkeit des Produktionsgeschehens. Gemeint ist damit nicht nur die Flexibilität einer Anlage, sich auf eine Modellvariante umrüsten zu lassen, sondern sich auf völlig neue Produkte und innovative Herstellungsverfahren einzustellen. Diese Fähigkeit ist alleine mit IT nicht zu erreichen. Sie erfordert eine fest verankerte unternehmerische Kultur des Wandels. Doch was genau ist damit gemeint? Eines ganz sicher nicht: Ein MES, das sein Dasein und seine Zukunft an vergangenen Lastenheften ausrichtet. Ein perfekter Go-Live – In-Time und In-Budget – ist selbstverständlich weiterhin wünschenswert. Doch er ist nur eine Momentaufnahme in einem ansonsten hochdynamischen Ökosystem aus vernetzten, globalen Chancen und Risiken.

Das Leben nach dem Go-Live

Warum ist der Fokus auf Wandelbarkeit so wichtig? Weil er in vielen Industriebetrieben und Projektorganisationen stiefmütterlich behandelt wird. Das Problem ist der übermäßige Fokus auf das Initialprojekt. Ist der Go-Live vollbracht, kommt es nach einer kurzen sogenannten Hyper-Care-Phase zur drastischen Entschleunigung bis hin zum Stillstand. Viele Projektstrukturen lösen sich auf und der kontinuierliche Verbesserungsprozess kommt nicht in Fahrt. Dieser ist jedoch die entscheidende Grundlage für Wandlungsfähigkeit, für Lessons Learned sowie prozessspezifische oder marktgetriebene Folgeprojekte. Nur so sind Unternehmen in der Lage, elastisch und effizient zu agieren – sei es im Zuge neuer Produkte und Produktionstechniken, veränderter Kundenanforderungen oder der Verlegung von Firmenstandorten.

Migration oder Evolution

Doch auch der Softwarepartner und die MES-Anwendung müssen sich wandlungsfähig zeigen – etwa beim Änderungsmanagement von Funktionen, dem Aufwand bei Release-Wechseln sowie der Update-Strategie hinsichtlich kunden- oder prozessspezifischer Systemanpassungen. Die zentrale Frage: Verfolgt der IT-Partner in seiner Entwicklungsstrategie das Konzept der Migration oder Evolution? Welche Aufwände entstehen bei der Realisierung notwendiger Integrations- bzw. Automatisierungsschritte oder der Einführung mobiler Anwendungen? Migration hat zur Folge, dass die zugrundliegende Softwarelandschaft in Teilen – in Modulen, Benutzeroberflächen, Schnittstellen und so weiter – erneuert werden muss. Es können hohe Kosten beim Änderungsmanagement von Funktionen sowie der Update-Strategie hinsichtlich kunden- oder prozessspezifischer Systemanpassungen anfallen. Evolutionär hingegen bedeutet, dass sich ein System elastisch gegenüber Markt- und Prozessmutationen verhält. Gemäß dem Prinzip ’never touch a running system‘ dienen Datenmodell, Bedienoberflächen und Funktionen als Fundament, das Zusätze ergänzen kann. Das schützt die Investition, in Software gegossenes Wissen bleibt erhalten und die Interaktion mit der umgebenden IT-Landschaft bleibt unangetastet.

Der Zwilling und die Datenbasis

Wie wichtig das kulturelle und technische Zusammenspiel in puncto Wandlungsfähigkeit ist, zeigt sich auch am Beispiel des digitalen Zwillings. Wie kaum ein anderer Begriff steht er für das Verschmelzen von realen und virtuellen Produktionsumgebungen bzw. von aktuellen Gegebenheiten und künftigen Möglichkeiten. Er umfasst sämtliche Produkt-, Prozess- und Produktionsmerkmale eines physischen Produkts, so dass R&D-Abteilungen Vorhersagen und Analysen zu Sicherheit, Stabilität und Potenzial von Produkt und Prozess ableiten können. Darüber hinaus löst über eine direkte Integration in die umgebenden IT-Systeme die Mutation des digitalen Abbildes eine Änderung im Produktionsprozess in Echtzeit aus. Schaut man nun auf die notwendige Datenstruktur, die eine solche Kultur der Wandlungsfähigkeit notwendig macht, stößt man unweigerlich auf das MES-Konzept der integrierten Datenhaltung. Eine integrierte Datenbank über alle qualitäts- und produktionsrelevanten Informationen liefert das notwendige Produkt- und Prozesswissen für ein agiles Gesamtsystem. Und dieser Wissenspool kann nur gedeihen, wenn die Innovationskultur eines Unternehmens den konsequenten Wandel umschließt.


Simone Cronjäger ist Geschäftsführerin der Carl Zeiss MES Solutions GmbH.