Kulturwandel der industriellen Produktion

Warum der Sprung auf Industrie 5.0 notwendig ist

Die Transformation zur Industrie 4.0 ist längst nicht fertig, da wird mit Industrie 5.0 bereits ein Nachfolger benötigt, findet Professor Günter Bitsch vom MES-Hersteller Becos. Im Gastbeitrag schildert der geschäftsführende Gesellschafter, warum Effizienz in den Hintergrund und der Mensch in den Vordergrund treten müsse. Und weshalb es dafür keine Revolution braucht, sondern einen kompletten Kulturwandel.

Bild: ©Drazen/stock.adobe.com
Bild: ©Drazen/stock.adobe.com

Das Ziel der Industrie 4.0 besteht darin, mit digitalen Anwendungen Effizienz und Flexibilität in der Produktion zu steigern. Anhand vertikaler und horizontaler Datenintegration samt digitaler Zwillinge sollen entlang der Wertschöpfungskette Optimierungspotenziale identifiziert werden. Am Ende steht die Smart Factory, in der das intelligente Werkstück eigenständig seinen Weg über den Shopfloor findet. Dieser technologie- und effizienzorientierte Ansatz der Industrie 4.0 wird durch ein neues Konzept weitergedacht, das den Menschen, Nachhaltigkeit und Resilienz in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns stellt: Industrie 5.0.

Ökologische und soziale Aspekte

Überschneidungen zum Vorgänger liegen auf der Hand. Die Effizienzsteigerung in der Produktion bezieht sich auch auf den Energie- und Ressourcenverbrauch. Doch ökologische Aspekte spielen im Zielbild Industrie 4.0 mit ihren Produktivitätssteigerungen allenfalls eine Nebenrolle. Das Streben nach Effizienz hat Grenzen. In der globalisierten Welt führt die Ausrichtung allein auf Gewinnorientierung dazu, dass Kosten und Nutzen für Umwelt und Gesellschaft nicht in Einklang stehen. Soll die Industrie jedoch den ‚Wohlstand für alle‘ bringen, müssen ökologische und soziale Aspekte stärker berücksichtigt werden.

Technologie für Menschen

Die Einführung digitaler Anwendungen in der industriellen Fertigung verlangt Mitarbeitenden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ab. Der menschenzentrierte Ansatz der Industrie 5.0 fragt nicht danach, was mit dieser oder jener Technologie erreicht werden kann, sondern inwiefern sie für den Menschen dienlich ist. Nicht die in der Industrie Arbeitenden sollen sich an Software und Produktionsprozesse anpassen. Software und Prozesse sollen stattdessen auf die Bedürfnisse der Arbeitenden abgestimmt werden.

Angestellte weiterentwickeln

Im hierfür notwendigen Paradigmenwechsel sind Angestellte nicht mehr nur als Verursacher von Arbeitskosten anzusehen. Im erneuerten Zielbild rückt die Frage in den Mittelpunkt, welche Maßnahmen erforderlich sind, damit sich Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen entwickeln können. Für die Arbeitgeber bedeutet das, in die Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden zu investieren und ihre Interessen zu berücksichtigen. Das beginnt damit, sie bei der Einführung digitaler Technologien früh einzubinden. Digitaltechnik sollte genutzt werden, um Arbeitsplätze integrativer und sicherer zu gestalten, um die Arbeitszufriedenheit zu steigern.

In Kreisläufen produzieren

Um den Raubbau an den natürlichen Ressourcen zu beenden, muss die Industrie Kreislaufprozesse entwickeln, um durch sinkende Material- und Energiebedarfe die Umweltbelastung deutlich zu reduzieren. Produktoutput und Ressourceninput rücken in den Fokus, der Lebenszyklus eines Produkts muss neu gedacht werden. Bislang werden nur rund zwölf Prozent an Sekundärrohstoffen und Ressourcen in die Industrieproduktion zurückgeführt. Die Erhöhung dieses Prozentsatzes dient dabei nicht nur ökologischen Zielen. Die gemeinsame Wiederverwendung etwa von Nebenprodukten wirkt sich auch positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit der kooperierenden Unternehmen aus.

Krisenfest aufgestellt

Zuletzt postuliert die Industrie 5.0 eine erhöhte Widerstandsfähigkeit der industriellen Produktion. Sie muss robuster auf Störungen reagieren und in Krisen kritische Infrastrukturen vorhalten können. Wie fragil die globalisierte Wirtschaft aufgestellt ist, hat die Covid-19-Pandemie vor Augen geführt. Wertschöpfungsketten und Produktionskapazitäten müssen nicht nur um der Effizienz willen anpassungsfähiger und Geschäftsprozesse flexibler werden, sondern auch um auf exogene Schocks wie geopolitische Ereignisse oder Naturkatastrophen schnell reagieren zu können. Dafür müssen technische Risiken in der industriellen Produktion identifiziert und Modelle zu deren Reduzierung entwickelt werden. Das bezieht sowohl eine Neuausrichtung des Risikomanagements ein, als auch die Entwicklung einer modularen Produktion sowie die Verwendung neuer Materialien und Techniken. Ein zentraler Punkt ist dabei die Cybersicherheit, deren Bedeutung mit steigender Abhängigkeit von digitalen Technologien weiter zunehmen wird.

Rahmenbedingungen schaffen

Der Übergang zwischen den Zielbildern Industrie 4.0 zu 5.0 ist fließend und kann in Teilen bereits beobachtet werden. Mit dem Wort Paradigmenwechsel wäre der Sprung zur fünften Industrierevolution nur unzureichend beschrieben. Es steht nicht weniger als ein Kulturwandel in der industriellen Produktion bevor. Unternehmern und Mitarbeitenden kommt eine neue Rolle zu, um die Ziele der Industrie 5.0 – Menschenzentrierung, Nachhaltigkeit und Resilienz – zu erreichen. Damit der Wandel gelingt, müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.