Acatech Industrie 4.0 Maturity Index

Welche Fähigkeiten sind im Wandel entscheidend?

Verschiedene Forschungsinstitute haben mit dem Acatech Industrie 4.0 Maturity Index eine Methodik geschaffen, die beginnend mit der Ermittlung des Status Quo aus technologischer, organisatorischer und kultureller Perspektive aufbauend einen Fahrplan für die digitale Transformation entwickeln kann.

Bild: FIR e. V. an der RWTH Aachen
Bild: FIR e. V. an der RWTH Aachen

Industrie 4.0 verspricht Unternehmen, die Produktivität signifikant zu erhöhen, flexibel auf Änderungen zu reagieren und Entscheidungen datenbasiert zu treffen. Allerdings konzentrieren sich die vorherrschenden Vorstellungen vor allem auf ein rein technologisches Verständnis. Häufig kommt es daher dazu, dass der eigentliche Zweck von Industrie 4.0, die Transformation zu einem agilen Unternehmen, aus den Augen verloren wird. Neben technologischen Veränderungen, die sich auf intelligente Ressourcen und vernetzte Informationssysteme beziehen, sind organisatorische und kulturelle Veränderungen gleichermaßen zu betrachten. Nur so kann der wesentliche Hebel von Industrie 4.0, eine Beschleunigung unternehmerischer Entscheidungs- und Anpassungsprozesse, erfolgreich umgesetzt werden. Der Industrie 4.0 Maturity Index identifiziert für produzierende Unternehmen in den vier Gestaltungsfeldern diejenigen Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Transformation notwendig sind. Mit einem umfangreichen Fragebogen wird die Reife der Fähigkeit bewertet. Die umfangreiche Bewertung der Fähigkeiten zeigt Unternehmen aktuelle Schwachstellen auf und ermöglicht eine individuelle Roadmap zur Erreichung des Zielzustandes zu entwickeln.

Gestaltungsfeld Ressourcen

Ressourcen im Sinne des Acatech Industrie 4.0 Maturity Index sind physische, greifbare Ressourcen, wie die Mitarbeiter des Unternehmens, die Maschinen und Anlagen, eingesetzten Werkzeuge, das verwendete Material sowie das finale Produkt. Ziel der digitalen Transformation ist, die Ressourcen so zu gestalten, dass sie neben der reinen Funktionserfüllung eine Schnittstelle zwischen physischer und digitaler Welt bilden. Auf diese Weise wird ein digitaler Schatten erzeugt, der als Grundlage des Lernprozesses zur Steigerung der Agilität dient. Durch eine intelligente Auslegung der Ressourcen ist es möglich, sowohl die Datenlatenz als auch die Umsetzungslatenz zu verringern. Daher müssen Ressourcen in einem agilen Unternehmen digital befähigt werden, Daten zu erzeugen und zielführend eigenständig zu Informationen zu verarbeiten. Somit bietet sich die Möglichkeit einer informationsgetriebenen Arbeitsweise basierend auf Rückmeldungen aus den Prozessumgebungen, anstatt auf prognosebasierten Planvorgaben. Das Vorhalten der digitalen Kompetenz kann nur gelingen, wenn die Interdisziplinarität des Denkens und Handelns der Mitarbeiter gefördert und diese stärker in den Innovationsprozess einbezogen werden. Eine strukturierte Kommunikation der Ressourcen dient dazu, die gesammelte Informationen zu verknüpfen, um ein Gesamtbild über das gesamte Produktionssystem zu erzeugen. Notwendige Fähigkeiten sind hierbei eine effiziente Kommunikation sowie eine bedarfsgerechte Schnittstellengestaltung.

Gestaltungsfeld Informationssysteme

Innerhalb eines produzierenden Unternehmens werden durch Menschen und Informationstechnologien Daten und Informationen nach wirtschaftlichen Kriterien bereitgestellt. Um die Daten und Informationen für erfolgswirksame Entscheidungen zu nutzen, ist eine sorgfältige Gestaltung dieser Systeme notwendig. Vor allem die voranschreitende Digitalisierung ermöglicht es Unternehmen, durch Nutzung des digitalen Schattens, Entscheidungen in Echtzeit und datenbasiert zu treffen. Trotz dieses hohen Potentials nutzen viele produzierende Unternehmen die ihnen vorliegenden Daten nicht oder nur unzureichend. Hauptproblem ist hierbei die unzureichende Verarbeitung der gesammelten Daten zu Informationen und deren Bereitstellung für die Mitarbeiter. Im Zuge der digitalen Transformation müssen zur Entscheidungsunterstützung Daten verarbeitet und aufbereitet werden. Dieses Prinzip erfordert Fähigkeiten, wie eine kontextbasierte Informationsbereitstellung, eine situationsgerechte Datenhaltung und anwendungsgerechte Benutzerschnittstellen. Daraus erfolgt die Anforderung, eine technische Infrastruktur bereit zu stellen, die eine echtzeitfähige Nutzung von Daten und Informationen erlaubt. Die verbesserte Datennutzung und Erhöhung der Agilität liegt in der Integration bestehender IT-Systeme zugrunde. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf einer gemeinsamen Datennutzung innerhalb der Wertschöpfungskette. Eine gemeinsame Datennutzung ist nur durch die Verwendung eines führenden Informationssystems möglich, welches die Vorhaltung von Duplikaten in verschiedenen IT-Systemen obsolet werden lässt. Voraussetzung hierfür ist das Vorhalten standardisierter Schnittstellen, einer umfassend IT-Sicherheit sowie einer vertikalen und horizontalen Integration von Informationssystemen.

Wandel in der Struktur

Neben der technischen Umsetzung muss der Wandel auch auf die Organisationsstruktur ausgeweitet werden. Die Organisationsstruktur umfasst sowohl eine interne Komponente, in Form der Aufbau- und Ablauforganisation, als auch eine externe Komponente durch die entsprechende Positionierung des Unternehmens im Wertschöpfungsnetzwerk. Kennzeichnend für die organische interne Organisation ist ein hohes Maß an Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Dementsprechend ist für eine solche Form der Organisation ein gut qualifizierter Mitarbeiterstamm essentiell. Eine wichtige Fähigkeit agiler Organisation liegt vor allem in sogenannten ‚flexible communities‘. Dies bedeutet, dass zur Lösung einer spezifischen Aufgabe in kurzer Zeit organisatorische Einheiten gebildet werden können. Darüber hinaus ist es wichtig, das hohe Maß der Eigenverantwortung durch motivierende Zielsysteme zu bündeln und auf den Kundennutzen auszurichten. Dies wird vor allem durch ein agiles Management möglich. Im Bereich der dynamischen Kollaboration im Wertschöpfungsnetzwerk sind solche Fähigkeiten gefragt, die einen reibungslosen und automatisierten Informationsaustausch zwischen Unternehmen ermöglichen. Hierzu zählt eine starke Ausrichtung auf den Kundennutzen und damit einhergehend eine Fokussierung der eigenen Kernkompetenzen. Die Fähigkeit innerhalb von Netzwerken zu kooperieren zeigt sich zum Beispiel darin, dass durch bedarfsgerechte Bündelung von Kompetenzen kürzere Reaktionszeiten auf sich wandelnde Marktanforderungen erzielt werden.

Gestaltungsfeld Kultur

Maßgeblichen Einfluss auf die Agilität eines Unternehmens ist dem Verhalten von Mitarbeitern zuzurechnen. Eine rein technologisch orientierte digitale Transformation zum agilen Unternehmen, ohne Augenmerk auf die innerbetriebliche Kultur, ist zum Scheitern verurteilt und wird den Unternehmen nicht die erhoffte Steigerung der Agilität einbringen. Die zentrale Fragestellung sollte sich danach richten, welche Verhaltensweisen der Mitarbeiter zukünftig relevant sind und welche Qualifikationen diese aufweisen sollten. Auf Grundlage dieser Informationen lassen sich anschließend entsprechende Assistenzsysteme einführen, welche die Arbeitsweise der Mitarbeiter unterstützen. Die Veränderungsbereitschaft spiegelt sich darin wieder, inwieweit die Mitarbeiter bereit sind ihr eigenes Verhalten kontinuierlich zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Diese Anpassungsbereitschaft erfordert das Erkennen von Chancen zur Veränderung und der Initiierung entsprechender Maßnahmen. Weitere Fähigkeiten liegen zum Beispiel darin, Fehler als Schatz und nicht als Problem zu sehen, offen für Innovationen zu sein und sich einer fortlaufenden Weiterbildung zu unterziehen. Die soziale Kollaboration umfasst die Fähigkeit, Wissen als maßgeblichen Handlungsleitfaden zu betrachten. Der Idealzustand wäre erfüllt, wenn sämtliche Entscheidungen auf Basis von Wissen getroffen würden. Darüber hinaus ist ein vertrauensvolles, soziales Verhalten die Prämisse für einen ungebremsten Informationsaustausch zwischen den Mitarbeitern. Dies wird durch die Fähigkeiten der offenen Kommunikation und einem demokratischen Führungsstil gefördert. Durch die beschriebenen Fähigkeiten in den Gestaltungsfeldern ist es möglich, jedes einzelne Gestaltungsfeld anhand der Reifegradstufen zu bewerten.

Erfolgreiche Anwendung

Der Industrie 4.0 Maturity Index hat in zahlreichen Anwendungen bei produzierenden Unternehmen die Praxistauglichkeit bewiesen. In einem solchen Unternehmensassessment bewertet der Maturity Index die vorhandenen Fähigkeiten innerhalb der vier Gestaltungsfelder. Dieser Status Quo wird wiederum dafür verwendet, Missstände und Probleme innerhalb der einzelnen Unternehmensbereiche aufzudecken und geeignete Maßnahmen zur Behebung abzuleiten. Jede der umgesetzten Maßnahmen entspricht dabei einem konkreten Nutzen, der das Unternehmen auf ihrer individuellen Industrie 4.0-Roadmap weiterbringt.