Vom Zeichenbrett zur Digitalen Fabrik

Technische Abläufe in der Industrie haben, genauso wie betriebswirtschaftliche Prozesse, ihre eigenen IT-Werkzeuge. Doch trotz der zunehmenden Digitalisierung der Fabrik sprechen die jeweiligen Systeme für Entwicklung, Produktion und Management unterschiedliche ‚Sprachen‘. Aktuelle Softwaregenerationen geben nun Hoffnung auf bessere Integration.

Bild: Siemens

Technische und betriebswirtschaftliche EDV sollen zusammenwachsen wie die zwei ‚Äste‘ eines Y. So zumindest sieht das Wunschszenario vieler IT-Verantwortlichen in der Industrie aus. Professor August-Wilhelm Scheer, bis vor Kurzem Präsident des Branchenverbandes Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom), hatte dieses Bild in den 1980er-Jahren geprägt, als in Technologiedebatten noch CAD/CAM und Produkionsplanungs- und Steuerungssystem (PPS) sowie das Computer Integrated Manufacturing (CIM) im Vordergrund standen. Doch mit dem Anwachsen der IT-Systeme wuchsen auch die Probleme bei der Handhabung der Daten. Grundsätzlich gilt es dabei, die Stückliste aus der Konstruktion in eine Fertigungsstückliste zu übersetzen, also darum, Daten aus der Entwicklung für Fertigung und Logistik zur Verfügung zu stellen.

Inzwischen haben 3D-Modelle das Zeichenbrett weitgehend verdrängt, als Ergebnis wird das NC-Programm zur Teileherstellung zum fast automatischen Nebenprodukt des digitalen Engineering. Die Digitalisierung hat auch die Fertigung selbst erfasst: Nach dem Produkt sind nun auch Produktionsanlage und Fabrikhalle virtuell modellierbar und simulierbar. Und die Beziehungen zwischen den vielen Komponenten eines Produktes oder einer Anlage können über eine Datenbank verwaltet und gesteuert werden. Für diese Managementaufgabe hat sich mittlerweile der Begriff Produkt-Lebenszyklus-Management (PLM) herausgebildet. CAD/CAM ist nur noch ein Teilaspekt davon. Auf der anderen Seite hat sich für das übergeordnete Management der Geschäftsprozesse das hauptsächlich von SAP eingeführte Kürzel ERP für Enterprise Ressource Management durchgesetzt. Dabei können Unternehmen Portfolio- und Projektmanagement, Fertigung, Lagerhaltung, Logistik und Marketing über eine Benutzeroberfläche handhaben.

Die Automatisierung der Produktion hat inzwischen einen solch hohen Stellenwert erreicht, dass die Steuerung und das Management entsprechender Anlagen eine eigene Anwendungsumgebung hervorgebracht hat: Der Begriff Manufacturing Execution System (MES) ist erst in den letzten zehn Jahren entstanden; es löst einen Bereich von IT-Werkzeugen aus den beiden großen Themen heraus und positioniert ihn unabhängig.

Herausforderung Prozess-Integration

Doch auch wenn die IT-Systeme in den letzten Jahren größer und leistungsfähiger geworden sind, lassen sich ihre Aufgabenbereiche damit nicht zwingend besser integrieren. Anstatt eines Trends hin zu einer umfassenden IT-Lösung aus einem Haus und in einer Sprache deutet sich in den letzten Jahren eher an, dass die Entwicklung von Großsystemen überlagert, wenn nicht konterkariert wird von neuen Technologien, die das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen lassen. Serviceorientierte Architekturen (SOA) waren der erste Ansatz in dieser Richtung.

An die Stelle der großen, monolithischen Systeme begannen viele Unternehmen vor allem in der Dienstleistungsbranche Architekturen zu setzen, in denen sie Funktionen unterschiedlicher Systeme unter einer benutzerspezifischen Oberfläche lose miteinander koppelten. Sie sollten als Services für den konkreten Einsatzzweck genutzt werden, ohne Kenntnis der Anwender bezüglich der Bedienungstiefen der jeweiligen Autorensysteme. Der Aufwand allerdings erwies sich als immens. Auch wenn es inzwischen viele solcher Architekturen gibt, rücken neuere Technologien einen alternativen Weg zum Ziel in den Fokus: mobile Apps und Cloud-Computing.

Was in Windeseile den Markt der Unterhaltungselektronik und der mobilen Internetnutzung revolutionierte, ist dabei, auch Business-Anwendungsbereiche zu erfassen. Die einfache Benutzung von Touchscreen-Geräten unterschiedlicher Größe, die einfache Bedienung auch komplexer Funktionen über kleine, schnelle und kostengünstige Anwendungen oder ‚Apps‘ sind nur einige Beispiele, die Vorteile auch für Geschäftsanwendungen versprechen.

Auf dem Weg zu neuen IT-Architekturen

Inzwischen beruht der zweite Teil dieser Entwicklung auf der Cloud, also der Nutzung von Speicher und Rechenkapazitäten, die nicht mehr am Arbeitsplatz und nicht einmal im Unternehmen angesiedelt sein müssen. Hier ergeben sich Möglichkeiten, die mit herkömmlichen IT-Architekturen nicht denkbar wären, beispielsweise die Nutzung von sehr großen Speichervolumina und hoher Rechenleistung, wobei nur die konkrete Nutzung bezahlt wird. Software as a Service (SAS) ist auf diese Weise von einer Zukunftsvision der Neunzigerjahre heute zu einer realen Möglichkeit geworden. Doch zuvor sind für die industrielle Nutzung viele Fragen der Datensicherheit noch zu lösen, entsprechende Apps und Dienstleistungsangebote gibt es zudem erst in Ansätzen.

Dennoch kommt hier eine Entwicklung in Gang, die ganze IT-Landschaften von Unternehmen verändern könnte: Wenn Applikationen und ihre Funktionen im Vordergrund stehen, wird IT-Anwendung wieder zu einem Thema, das auch die Agilität und Flexibilität kleinster Unternehmen fordert und fördert. Ein Online-Ansatz kann industriellen Anwendern nutzen, die sich über alternative Architekturen Gedanken machen müssen, die bezahlbar und in angemessener Zeit umsetzbar sind. Das Y von Professor Scheer – es könnte in Zukunft wie ein Mosaik-Y aussehen: Viele kleine Applikationen in der Cloud erlauben es vielleicht bald Unternehmen, ihre Prozesse so zu integrieren, wie sie es zuvor mit hohem Aufwand nicht geschafft haben. Die allgemeine Entwicklung der Unternehmens-IT weist jedenfalls in diese Richtung.


Systemintegration: Vielfältiges Lösungsangebot für die digitale Fabrik

Wie ein Y sollen technische und betriebswirtschaftliche IT zusammenwachsen – angesichts des Leistungsumfanges aktueller Lösungen keine einfache Anforderung für Unternehmens-IT und Software-Anbieter. Einblicke in die zahlreichen Anwendungsbereiche aktueller Software-Lösungen im industriellen Umfeld bietet ab dem 23. April die Leitmesse Digital Factory auf der Hannover Messe 2012. Die vorgestellten Lösungen reichen vom umfassenden Enterprise Resource Planning-System bis zu spezialisierten Anwendungen für Entwicklung oder Produktionssteuerung. Zu den Ausstellern von Product Lifecycle Management-Systemen auf der Messe zählen unter anderem Autodesk, Dassault Systèmes, PTC und Siemens PLM Software. Aus dem Bereich ERP präsentieren auch zahlreiche Software-Hersteller Systeme für den Maschinen- und Anlagenbau, darunter Abas, PSI und SAP. Als MES-Anbieter sind unter anderem Forcam, MPDV und Proxia vertreten. Dabei steht auf vielen Ständen auch die mobile Systemnutzung im Vordergrund, auch das Thema Cloud-Computing-Technologie wird vertreten sein. So kündigt etwa Aucotec an, auf der Messe zu zeigen, wie Apps Planung, Betrieb und Wartung von Maschinen und Anlagen erleichtern. Siemens PLM Software präsentiert eine Erweiterung ihrer Mobility-Lösung Teamcenter App Share, mit der sich Anwender per iPad in eine Web-Konferenz einklinken können.
Quelle: Professor Dr. Scheer