Produktgedächtnis für die Variantenfertigung

Eine zukunftsfähige Produktion muss flexibel reagieren können – dies sind auch Aspekte des Konzepts Industrie 4.0. Das Gerätewerk Amberg begegnet diesen Herausforderungen auch durch das Mitführen digitaler Bearbeitungsinformationen und deren funkgestützter Verarbeitung. Gerade bei variantenreichen Produkten spielt dabei auch die Einbindung des Menschen eine wichtige Rolle.

Bild: Siemens

Um das Schlagwort Industrie 4.0 in Worte zu fassen, wird häufig von einer Digitalisierung der Fabriken gesprochen. In der klassischen Organisation einer Produktion wird das Produktionsprogramm durch einen Planungsstab festgelegt und ‚von oben‘ für die verschiedenen Fertigungsstufen vorgegeben. Doch mit zunehmender Komplexität können zentralistische Konzepte an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geraten. Bereits die Einführung einer kundenindividuellen Massenproduktion führt dazu, dass Maschinen unter Umständen bei jedem Teil ein unterschiedliches Programm ausführen müssen.

Während in den ersten beiden Stufen der industriellen Revolution vor allem die Optimierung der Massenproduktion von Gleichteilen im Fokus stand, ist es nun die Schaffung einer umfassenden Angebotspalette, die nahezu jeden Kundenwunsch erfüllt. Der Grund: Zunehmender Wettbewerb in transparenten und gesättigten Märkten haben die Position der Nachfrager gestärkt. Neuwagen etwa werden nicht mehr einheitlich produziert, sondern lassen sich im Bestellvorgang bis ins Detail konfigurieren. Was in der Automobilbranche – zumindest im Premium-Segment – weithin etabliert ist, steht in anderen Industrien oft noch am Anfang. So gibt es zwar vereinzelt Unternehmen wie die westfälische Bette GmbH, die sich in Teilmärkten mit dem Konzept der kundenindividuellen Massenproduktion einen strategischen Wettbewerbsvorteil erarbeitet haben.

Für die prognostizierte ‚Industrie 4.0‘ wird dieser Trend zur Individualisierung der Produktion jedoch nicht mehr nur in ausgewählten Branchen oder spezifischen Nischen gesehen, sondern für das gesamte verarbeitende Gewerbe durchdacht. Neue technische Konzepte seien hierfür notwendig – sogenannte ‚Cyber-Physical Systems‘, in denen u.a. Halb- oder Fertigteile miteinander und den Maschinen und Anlagen kommunizieren. Das ‚Internet der Dinge‘ wird dafür mit dem ‚Internet der Dienste‘ kombiniert. Dieses Konzept zielt auf eine selbstorganisierende Form der Produktion ab. Wie bereits im ‚Internet der Daten‘ sind es dezentrale Strukturen, die sich einer zentralen Organisation gegenüber als robuster und dennoch flexibler erweisen sollen.

Industrie 4.0-Konzepte mit Funktechnologie umsetzen

Bereits heute stehen Technologien zur Verfügung, diverse Ansätze des Konzeptes Industrie 4.0 umzusetzen. So können Produkte mit Radio-Frequency-Identification-Datenträgern (RFID) ausgestattet werden, um Informationen zu ihrem Bauplan sowie Qualitätsdaten stets mit sich zu tragen. Daten, die nicht auf dem Funkchip vorgehalten werden können, weil sie etwa während des Produktionsprozess verändert werden, lassen sich über eine Vernetzung von der Feldebene bis in die Unternehmens-IT übertragen. Außerdem unterstützen weltweite Standards – von EPC-Global bei RFID über Ethernet und TCP/IP bis hin zu XML – die Vernetzung der Produktion ohne zentrale Kopplung. Wird ein Zulieferteil in einen Produktionsprozess eingeschleust, so müssen Informationen wie die Farbe nicht mehr über Datenbanken abgeglichen werden. Der RFID-Tag liefert diese Daten neben solchen zur eindeutigen Identifikation gleich mit.

Maschinen lösen vielfältige Aufgaben

In der Produktion selbst werden flexible Maschinen benötigt, die eine Vielzahl von Aufgaben durchführen können. Ein weiteres Beispiel für agile Produktionsverfahren ist die flexible Materialflusssteuerung: Diese unterstützt Anwender dabei, Werkstücke auslastungsgesteuert durch die Anlage zu transportieren. Bei all dem bleibt eine zentrale Steuerkomponente notwendig, um Priorisierungen vorzunehmen und die Aufträge in das Produktionsnetzwerk einzuschleusen. Dass das Konzept der selbstorganisierenden Produktion in der Praxis funktioniert, zeigen Beispiele aus deutschen Unternehmen. So hat der Siemens-Konzern seine Produktionslinie für Schaltgeräte in Amberg nach den Prinzipien einer autonomen, selbst organisierenden Fabrikation aufgebaut. In Amberg werden 250 Varianten von elektrischen Schaltgeräten in einer ‚Made-to-order‘-Produktion gebaut. Spezielle Werkstückträger tragen auf RFID-Transpondern vom Typ Simatic RF300 den Bauplan, der etwa Prüfautomaten ermöglicht, ein individuelles Prüfprogramm für die Geräte durchzuführen. Die Prüf- und andere Qualitätsdaten werden entweder über eine Profinet-Vernetzung in die Leitsysteme übertragen, oder auf dem RFID-Chip gespeichert.

Der Mensch als Experte für Variantenfertigung

Doch nicht alle Herausforderungen lassen sich durch Maschinen lösen: In einer Fließfertigung sinkt durch zunehmende Variantenzahl die Auslastung der Maschinen immer dann, wenn für einzelne Produktversionen Spezialroboter eingesetzt werden müssen. Ansonsten stehen diese Maschinen still. Um dem entgegenzuwirken, setzt die Werksführung auf eine Stärke menschlicher Arbeitskraft: Zahlreiche Arbeitsschritte werden anstelle von Maschinen von geschulten Facharbeitern ausgeführt, die eine deutlich höhere Variantenzahl bewältigen als Roboter. Mehrere dieser manuellen Arbeitsplätze sind an der Linie vorgesehen.

Durch den RFID-Chip erhalten die Mitarbeiter genaue Anweisungen auf Bildschirmen angezeigt, was mit dem Werkstück zu tun ist. Zudem verfügt die Anlage über eine zweisträngige Materialflusssteuerung: Damit müssen die Teile nicht mehr sequenziell durch die Linie bewegt, sondern können auch zu vorgelagerten Stationen zurück transportiert werden. In dieser Kombination von Materialfluss und manueller Bearbeitung lässt sich eine auslastungsgesteuerte, effiziente und dennoch flexible Produktionslinie betreiben. Damit löst das Amberger Werk für sich die Herausforderung, auch bei ausgefächertem Produktionsprogramm mit hoher Auslastung zu fertigen.

Schnittmenge zur Industrie 4.0

Identifikation und Vernetzung gelten als Schlüsseltechnologien auf dem Weg zur Industrie 4.0. Neben der Software zur Planung der Produkte, der Simulation der Fertigungsabläufe, dem effizienten Engineering der Automatisierung, der Produktionsplanung und den Supply-Chain-Management-Systemen (SCM) ist es auch die technische Infrastruktur, die zum Gelingen einer sich selbst organisierenden Produktion beiträgt. Industrielle Kommunikation und automatische Identifikation werden sich deshalb aller Voraussicht nach auch weiterhin noch stärker als heute zu Backbone-Technologien der digitalen Fabrik entwickeln.







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