Manufacturing Intelligence

„Software allein bringt keine Vorteile“

Auch wenn der Name es nahelegt – ‚Manufacturing Intelligence‘-Systeme haben wenig mit Business Intelligence-Lösungen gemein. Entsprechend ungern hört Ralf Sonnefeld, wenn beide Begriffe in einem Atemzug genannt werden. Der Direktor MES D-A-CH bei Siemens erläutert, was produktionsnahe Systeme zur Echtzeit-Unterstützung auf Bediener- und Management-Ebene leisten.

Bild: Siemens

IT&Production: Im Zusammenhang mit produktionsnaher IT fällt häufig der Begriff ‚Manufacturing Intelligence‘. Was leisten entsprechende Systeme und Funktionen?

Ralf Sonnefeld: Der Hauptnutzen von Manufacturing Intelligence (MI) besteht darin, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit an die richtigen Leute zu bringen, so dass sie davon Handlungen ableiten können. Das betrifft den Maschinenbediener genauso wie den Schicht- oder Werksleiter. Auf technischer Seite geht es darum, auf Basis verschiedener Datenquellen eine einheitliche Informationsbasis zu schaffen. Gleichzeitig sollen die Daten zeitnah zur Verfügung stehen, und sich trotz unterschiedlicher Quellen, die vom Sensor bis zu Rohstoffpreislisten reichen können, im Zusammenspiel auswerten lassen. Schließlich geht es darum, nutzbringende Informationen zu gewinnen. Für den Produktionsleiter einer Chemieanlage kann das ein Ampelsystem im Büro sein, das anzeigt, wie die Anlage läuft. Davon leitet er Aktionen ab – steht die Ampel auf ‚Rot‘, muss er den zuständigen Verantwortlichen identifizieren, der dann wiederum aus seiner Sicht auf die Anlagendaten alle nötigen Schritte einleitet. Die Software allein bringt allerdings keine Vorteile: Um beispielsweise die Ausbeute zu optimieren, muss zunächst ein Informationsmodell entwickelt werden, das technologische Kennzahlen und Einflussgrößen für den Treiber ‚Ausbeute‘ aufzeigt. Daraus lässt sich auch ableiten, welche Datensysteme als Informationsquellen harmonisiert werden müssen. Dabei gilt es, die Informationen dort zu lassen, wo sie sind – also Daten nicht wegzukopieren oder offline abzulegen. Solch ein durchgängiges Informationsmodell, das allen am Produktionsprozess Beteiligten Informationen in einer geeigneten Art und Weise präsentiert, führt dazu, dass alle in einer Organisation an einem Strang ziehen. Jeder trifft zwar seine individuellen Entscheidungen, am Ende arbeiten jedoch alle auf Basis von Kennzahlen in eine Richtung, die dem Geschäftsziel entspricht.

IT&Production: Damit ist Manufacturing Intelligence kein Reporting-Werkzeug im Sinne einer ‚Business-Intelligence für die Werkhalle‘?

Sonnefeld: Ich mag diese Verbindung nicht – im gleichen Atemzug Business Intelligence (BI) und MI zu nennen, halte ich für problematisch. Dazu sind die beiden Konzepte zu unterschiedlich. BI dient als Reporting-System für das Managment zuerst dazu, ein Geschäft langfristig nach finanziellen Kennzahlen zu führen. MI hingegen liefert Echtzeitdaten, damit die beteiligten Mitarbeiter zielgerichtet auf Basis von Produktionskennzahlen arbeiten können. MI ist überall da gut, wo aufgrund steigender Komplexität auch in der Produktion wissensbasierte Entscheidungen getroffen werden müssen. Das ist Teil der Evolution der Produktion, gerade in Westeuropa und Deutschland mit seiner ausgeprägten Fertigungskultur. Für uns ist es wichtig, dass der Mann an der Maschine nicht nur Schritte abarbeitet, sondern durch eine Lernkurve geht, bessere Entscheidungen trifft und immer komplexere Abläufe beherrscht. MI hat viel damit zu tun, dem Einzelnen zu zeigen, wie viel Einfluss er auf den Gesamtprozess hat. Viel mehr als BI hat es einen kollaborativen Charakter, denn die meisten Fertigungskennzahlen kann der Einzelne nicht mehr treiben. Wir gehen davon aus, dass es in Zukunft noch sehr viele Entscheidungsprozesse im Fertigungsumfeld gibt, die den Menschen brauchen, sein Wissen und sein Erfahrung.

IT&Production: Wie sehen solche wissensbasierten Entscheidungen in der Praxis aus?

Sonnefeld: Einfach gesprochen: Bauchentscheidungen gibt es nicht. Über viele Entscheidungen denken Menschen zwar nicht mehr nach, treffen sie aber dennoch nach messbaren Kriterien. Ein erfahrener Anlagenfahrer im Stahlwerk kann beim Blick auf die Schlacke einschätzen, wieviel Kalk er zusetzen muss. Bei genauen Nachfragen stellt sich heraus, dass er dabei beispielsweise auf die Blasengröße schaut, bevor er Kalk zusetzt. Solche Vorgänge lassen sich IT-gestützt abbilden. In der einfachsten Form liefert MI Informationen, um dem Anwender zu helfen, basierend auf seiner Einschätzung der Situation und seiner Leistung eine bessere Entscheidung zu treffen. Als nächste Stufe unterstützt der Rückgriff auf historische Szenarien die Entscheidungsfindung, indem sie Echtzeit- und historische Daten auf den gleichen Aggregationslevel heben. So kann der Anlagenfahrer, der einen Anlagenstillstand befürchtet, als Vergleich auf Messdaten zurückblicken, die kurz vor einem ähnlichen Stillstand in der letzten Woche erfasst wurden. Zusätzliche Analysen können zeigen, wie viel Zeit ihm für eine Entscheidung zur Verfügung steht. Auf einer noch höheren Stufe arbeiten MI-Systeme, die ähnlich einem Expertensystem auf Basis historischer Daten Entscheidungsvorschläge liefern, etwa um einem Anlagenfahrer auf Basis von Condition Monitoring-Daten zu empfehlen, eine Zuführ-Linie herunterzufahren, um einen ungeplanten Stillstand zu vermeiden.

IT&Production: Es geht also nicht zuerst darum, dem Anwender in Form von Arbeitsanweisungen die Entscheidung über die richtige Abfolge einfacher Handgriffe abzunehmen?

Sonnefeld: Das Wissen der Anwender ein Stück weit in das MI beziehungsweise sein Informationsmodell zu integrieren heißt nicht, ihnen die Entscheidung abzunehmen. Wenn die IT-Systeme eines Unternehmens eng zusammenarbeiten, lassen sich beispielsweise finanzielle Produktionskennzahlen ausrechnen, die auf Basis von Fertigungs- und Finanzdaten ‚Lost Opportunities‘ in Echtzeit aufzeigen. So kann der Produktionsleiter für drei Werke, die das Gleiche herstellen, zum Beispiel Up- und Downtime, Ausbeute, Qualität und Durchsatz vergleichen. Wenn jeder Standort, der gut in einer der Disziplinen ist, den Level bei allen anderen hebt, bringt das viele Vorteile. Ein Weg dorthin besteht in der Echtzeit-Visualisierung der gleichen Kennzahlen für alle drei Werke. Das System zeigt dann etwa an: Wenn nur 82 Prozent Ausbeute erreicht werden, entgehen dem Unternehmen in dieser Schicht 211.000 Euro. Dieser Ansatz hat sich auch im Rahmen von Energiesparprogrammen bewährt: Wenn der Werker sieht, dass er durch das ruppige Hochfahren eines Motors 420 Euro verschwendet, geht er mit der Maschine schnell anders um. Für einen Operator lohnt sich solch ein System aber nur dann, wenn er Entscheidungsspielraum hat.

IT&Production: Wo liegt der Unterschied zu Reporting-Funktionen in Manufacturing Execution-Systemen? Hier finden sich auch rollenbasierte Datensichten, die sich auf Anwenderbedürfnisse hin gestalten lassen …

Sonnefeld: Vieles, was wir in unserem Manufacturing-Execution-System Simatic IT umsetzen, dient der engeren Führung von Mitarbeitern, etwa über Arbeitsanweisungen. Diese rein anwendungsbasierte Unterstützung mit Arbeitsanweisungen funktioniert nur dort, wo absehbare Handgriffe wiederholt werden. Gleichzeitig bieten wir in MI die Möglichkeit, eine weicherer Führung zu realisieren: Der Mitarbeiter versteht, in welcher Weise er zum Erfolg beiträgt. Denn das System soll ja auch als Werkzeug zur Unterstützung wissens- und erfahrungsbasierter Entscheidungen dienen. MI muss dabei nicht mit einem Manufacturing Execution-System (MES) gekoppelt werden, aus unserer Sicht bietet dieser Ansatz aber zahlreiche Vorteile. MES ist die Schnittstelle zu Operator, Maschine, Produktion, Auftragsmagement und Rezepturverwaltung und ermittelt Bedarfe, Zeitwerte, Qualitätsdaten und Kosten. Und vor dem Einsatz einer MI-Lösung muss das Informationsmodell aufgesetzt werden, das bestimmt, welcher Anwender welche Daten in welcher Aggregation benötigt. Außerdem muss sich der Implementierer Gedanken über den Datenkontext machen, um beispielsweise Temperatur- und Zeitwerte mit Chargeninformationen zusammenführen zu können. Die meiste Arbeit steckt dabei im Informationsmodell, außerdem muss das passende Interface für jede Anwenderrolle erstellt werden. Integriert in ein MES liegen die Daten für MI?schon in der passenden Informationsstruktur vor, etwa über vorgefertigte Kennzahlen-Bibliotheken für bestimmte Industrien. Der andere Vorteil im Zusammenspiel mit einem rollenbasierten MES liegt darin, dass Ausgabemasken etwa für Bediener, Schichtleiter oder Plant Manager ebenfalls schon vorliegen. Dashboards, Reports, Rückmeldungen und Basiseingaben lassen sich in einem durchgehenden System recht schnell gestalten.

IT&Production: Welche Unternehmen profitieren Ihrer Erfahrung nach besonders stark vom Einsatz von Manufacturing Intelligence-Systemen?

Sonnefeld: Was Manufacturing Intelligence einem Unternehmen bringt, ist abhängig davon, wie das System eingesetzt wird. MI eignet sich vor allem für Unternehmen, die die Menschen als wichtigsten Asset ihrer Produktion betrachten. Je mehr Erfahrung und Intelligenz ein Unternehmen in Informationsmodell und Prozessgestaltung einbringt, um so besser fallen die Resultate beim Einsatz einer MI-Lösung aus. Insgesamt gewinnen MI-Lösungen derzeit, auch angesichts immer älterer Belegschaften, an Attraktivität für die Industrie. In der Chemie- und Petro-Branche wird beispielsweise schon vom ‚großen Schichtwechsel‘ gesprochen, gerade in den USA herrscht große Angst, die Renten-Abgänge nicht mehr ersetzen zu können. Unternehmen, die Erfahrungen mehren und in wirtschaftlichen Erfolg umsetzen wollen, stehen bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter vor zwei Varianten: Entweder es stehen noch ältere Kollegen für die Einweisung zur Verfügung, oder ein IT-System kann das Wissen abbilden, das zuvor erfasst wurde. Hinzu kommt: Heutige ‚Knowledge-Worker‘ wollen sich im Beruf verwirklichen und wissensbasierte Entscheidungen treffen. (mec)