Inbetriebnahme von Anlagen

Simulation in Echtzeit

Das Schlagwort Industrie 4.0 vereint alle Maßnahmen, die deutsche Produktionsunternehmen mittels Digitalisierung ihrer Produktionstechnik befähigen sollen, ihre Spitzenposition im globalen Wettbewerb zu behaupten. Durch die intelligente Vernetzung und Interaktion von Maschinenbau, Elektrotechnik und IT entstehen neue Produktionssysteme, deren unabhängige Komponenten schon heute in vielen Produktionsstätten durch Steuerungs- und Optimierungssoftware verknüpft sind. Eine intelligente Simulationslösung versetzt Maschinen- und Anlagenbauer in die Lage, Simulationen und 3D-Visualisierungen vernetzter Maschinen und Anlagen mit realen Steuerungskomponenten in Steuerungsechtzeit vorzunehmen.



Bilder: Heitec AG

In Unternehmen und auch weltweit über Unternehmensgrenzen hinweg werden Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel zunehmend zu Cyber Physical Systems verknüpft. Dabei arbeiten autonome Mechanik-, Elektronik- und IT-Komponenten zusammen, indem sie Informationen austauschen, eigenständig Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbstständig steuern. Zukünftig werden sie in Smart Factories noch enger verknüpft sein – vertikal mit betriebswirtschaftlichen Prozessen innerhalb von Fabriken und Unternehmen sowie horizontal zu verteilten, in Echtzeit steuerbaren Wertschöpfungsnetzwerken. Schon heute nutzen viele Unternehmen das sich daraus ergebende Potenzial: Vorhandene IT bildet vielerorts die Basis für neue Geschäftsmodelle mit Fokus auf die Lebenszyklus- und Serviceoptimierung. Wenn Unternehmen den Bedarf durch verknüpfte Maschinen genauer prognostizieren, können sie ihre Sicherheitsbestände reduzieren und damit Lagerhaltungskosten sparen. Zudem lassen sich durch mehr Transparenz die Komplexitätskosten um bis zu 70 Prozent reduzieren, da alle Maschinen optimal ausgelastet sind. Erst eine solche durchgängig transparente Produktion erlaubt fundierte und zugleich schnelle Entscheidungen zu notwendigen Investitionen: Unternehmen wissen, an welcher Maschine sie wann welches Produkt herstellen können, sodass sie nur jene Bauteile und Materialien anschaffen müssen, die sie wirklich benötigen.

Flexibel und kundenorientiert

Während die Mehrzahl der Standardmaschinen inzwischen aus Asien kommt, sind Flexibilität und Kundenorientierung die großen Stärken deutscher Unternehmen. Sie können eine Maschine in Bezug auf Funktionsumfang oder Arbeitsraum völlig individuell konzipieren, realisieren und produzieren. Individuelle Maschinen und Anlagen sind für deutsche Maschinen- und Anlagenbauer schon heute fundamental wichtig und werden zukünftig noch stärker an Bedeutung gewinnen. Während beispielsweise in der Automobilindustrie der Modellzyklus Ende des 20. Jahrhunderts rund zehn Jahre betrug, kommt heute alle zwei bis drei Jahre ein neues Fahrzeugmodell auf den Markt. Um alle Komponenten individuell fertigen zu können, sind die für die Produktion notwendigen Maschinen entsprechend aufzubauen beziehungsweise umzurüsten – ein zeit- und kostenintensives Vorhaben.

Wenn Fahrzeugbauer eine neue Produktionslinie für bestimmte Fahrzeugtypen oder Motorenkomponenten bereits vor Inbetriebnahme virtuell auf Qualität und Performance testen, spart das Zeit und Geld. Eine Softwarelösung für virtuelle Simulation vereinfacht den Engineering-Prozess signifikant. Das Simulationsmodell steht bereits in der Entwicklungsphase zur Verfügung und berücksichtigt die Belange aller beteiligten Unternehmensbereiche. Es begleitet die Anlage über ihr gesamtes Produktleben – jederzeit verfügbar für virtuelle Inbetriebnahmen, Anlagenoptimierungen im Betrieb, Fernwartung, Mitarbeiter- und Kundenschulungen et cetera. Auch über den Automotiv-Bereich hinaus sind zunehmend neue Planungsansätze auf Basis von Simulationsmodellen erforderlich, die die reale Welt möglichst ohne Einschränkungen abbilden, um flexible und rekonfigurierbare Produktionssysteme verwirklichen zu können.

Im Millisekunden-Takt

Anders als bei ‚Trial-and-Error-Konzepten‘ müssen Unternehmen ihre Anlage bei der Simulation nicht mehr komplett auf- oder umbauen, um sie umfassend testen zu können. Finden solche Tests real und im laufenden Betrieb statt, ist bei etwaigen Fehlern sogar mit Produktionsausfällen und Lieferverzug zu rechnen. Hier liegt die große Stärke virtueller Tests. Bei einer Simulationslösung wie ISG-virtuos lässt sich nicht nur die Steuerungstechnik (PLC, CNC) einer Maschine, sondern sogar kompletter Anlagen über die jeweiligen realen Feldbusse an ein Simulationssystem anschließen (Hardware-in-the-Loop-Simulation). Dieses testet im Detail das Zusammenspiel von CNC und der späteren Maschine in Bezug auf Qualität, Performance und bestimmte Produktionsabläufe – und das in Steuerungsechtzeit, also im Millisekunden-Takt. Die Ergebnisse lassen sich ohne Einschränkungen auf die Komponenten der realen Anlage übertragen. Zudem eignet sich eine derartige Simulationslösung auch zur Analyse neuer Konzepte: Unternehmen können diese vorab überprüfen, ohne dafür kostspielige Prototypen zeitaufwändig herstellen zu müssen. Zugleich arbeiten verschiedene Unternehmensabteilungen, etwa mechanische und Elektrokonstruktion, Produktion, IT und Vertrieb, enger zusammen, weil sie auf Basis der Simulation die beste Lösung gemeinsam diskutieren und unmittelbar überprüfen können.

Virtuelle Probe

Mit einer Simulationslösung nehmen Anlagen- und Maschinenbauer reproduzierbare Tests vor, überprüfen die Inbetriebnahme der Steuerungen und führen neben Performanceoptimierungen auch virtuelle ‚Factory Acceptance Tests‘ (FATs) durch. Auch der komplette Test von Produktionsläufen mit virtuellen Werkstücken und realen Produktionsdaten ist möglich. Zudem können Unternehmen beispielsweise simulieren, wie sich die Komponenten der Anlage im realen Betrieb bei einem Störfall verhalten und wie die Anwender an der Anlage darauf reagieren müssen. Ein weiterer Vorteil: Notwendige Änderungen oder Anpassungen werden frühzeitig erkannt – noch bevor die reale Anlage aufgebaut oder umgerüstet ist. Auch im laufenden Betrieb hilft die frühzeitige Fehlererkennung und -behebung, Folgekosten einzusparen, weil Kollisionen, Fehlfunktionen und Ablaufprobleme gar nicht erst auftreten. Neben Anlagen- und Maschinenbauern profitieren auch Engineering-Unternehmen mit Verantwortung für die Gesamtauslegung eines innovativen und flexiblen Produktionssystems von derartigen Simulationslösungen. Mit ihnen können sie ihre Engineering- und Geschäftsprozesse dynamisch gestalten. Dies ermöglicht wiederum kurzfristige Produktionsänderungen und flexible Reaktionen auf Störungen aller Art. Auch nach Auslieferung einer Anlage steht das virtuelle Anlagenmodell für Tests von Optimierungen und Adaptionen zur Verfügung – ohne dass die reale Anlage dabei blockiert oder gefährdet würde.



Anders als bei ‚Trial-and-Error-Konzepten‘ müssen Unternehmen ihre Anlage bei der Simulation nicht mehr komplett auf- oder umbauen, um sie umfassend testen zu können. Bild: ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH

Flexible Engineering-Prozesse

Der Einsatz einer Simulationslösung bringt Veränderungen mit sich. Ein Engineering-Prozess ohne integrierte Simulation gestaltet sich zumeist sequentiell – verschiedene Abteilungen sind nicht gleichzeitig, sondern nacheinander an der Realisierung beteiligt und in die notwendigen Tests involviert. Im Engineering sollte also ein Umdenken stattfinden: Bei simulationsbasierten Engineering-Prozessen bildet die Zusammenarbeit in abteilungsübergreifenden Teams eine Grundvoraussetzung. Die Basis dafür sollte vor allem die Unternehmensführung legen, indem sie das notwendige Change Management bedingungslos fordert und fördert. Idealerweise begleitet der Anbieter des Simulationssystems die Konzeption und Implementierung der Simulationslösung in enger Zusammenarbeit mit den Change Management-Verantwortlichen.

In einem ersten Schritt erarbeitet der Softwareanbieter mit den Fachspezialisten eine für das Unternehmen optimale Lösung, die er dann mit den späteren Anwendern durchspielt, etwa in Form der kompletten Inbetriebnahme einer Anlage beziehungsweise einer kritischen Komponente. Im Anschluss können die Mitarbeiter ihre Anwendungen erstmals an virtuellen Komponenten vollumfänglich testen und somit vom neuen Engineering-Prozess profitieren. Ihre vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten macht eine Simulation in Steuerungsechtzeit zum vollwertigen Ersatz für reale Anlagen und Maschinen samt Sensoren, Aktoren, Antriebstechnik und Sicherheitsfunktionen. Davon profitieren Unternehmen – wie praktische Erfahrungen zeigen – auf vielen Ebenen: Die Inbetriebnahmezeiten an der realen Anlage sinken um bis zu 80 Prozent, was wiederum kürzere Projektdurchlauf- und Hallenbelegungszeiten bedeutet. Gleichzeitig reduzieren sich die Kosten und der zeitliche Aufwand für Produktentwicklungen um bis zu 20 Prozent. Durch das sogenannte ‚Simulation-based Engineering‘ können Anlagen- und Maschinenbauer die Projektgesamtkosten um rund 30 Prozent senken.