Im Gespräch mit Burkhard Röhrig

„Produktionstechnik muss beherrschbar bleiben“

Von Industrie 4.0-Technologie versprechen sich Unternehmen nicht zuletzt eine flexiblere Produktion. Von dem so gewonnenen Spielraum sollten sie etwas an ihre Mitarbeiter zurückgeben. Das sagt Burkhard Röhrig, Vorstandsvorsitzender des Fachverbandes Software im VDMA und Geschäftsführer der GFOS mbH.

IT&Production: Das internationale Rennen auf dem Weg zur Industrie 4.0 scheint in vollem Gange zu sein. Das Industrial Internet Consortium hat zum Beispiel kürzlich eine Referenzarchitektur für IoT-Installationen veröffentlicht. Sind die hiesigen Fertigungsunternehmen von dieser Entwicklung bereits abgehängt, die deutlich von amerikanischen Firmen geprägt ist?




Bild: GFOS mbH

Burkhard Röhrig: Das glaube ich nicht. Das ganze Thema steht noch recht weit am Anfang. Dennoch müssen wir zum Beispiel bei der IT-Infrastruktur im Land und auch in den Fertigungsunternehmen nachbessern. Studien zeigen, dass die Menge der ausgetauschten Daten weiter schnell wachsen wird. Die Pläne der Bundesregierung bis zum Jahr 2017 lassen bei dieser Aufgabe den Vergleich zu, dass eine einspurige Straße vorgesehen wird, wo dringend eine Autobahn benötigt wird. Dennoch bildet der hohe Grad an Automatisierung in der Fertigungsindustrie eine solide Grundlage, auf dem Weg zur Industrie 4.0 nicht den Anschluss zu verlieren. Ein weiteres Handlungsfeld ist IT-Sicherheit. Die zahlreichen Meldungen über Cyber-Angriffe hemmen die Bereitschaft vieler Fertigungsunternehmen, sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen.

Ein Beispiel aus der Prozessindustrie zeigt, warum das so ist: Zum Zeitpunkt der Produktion liegen dort IST-Rezepturen auf den Maschinen. Wenn sich Unbefugte in das Netzwerk einschalten, etwa um per Remote-Zugriff eine Wartung durchzuführen, könnten sie theoretisch die Rezepturen abschöpfen und damit das Kern-Know-how des Produzenten. Die Existenzgrundlage des Betriebes hängt davon ab. Das sind für mich besonders schutzbedürftige Informationen, für die eine größtmögliche Sicherheit eingerichtet werden muss. Ein provisorischer Lösungsansatz wäre es beispielsweise, die Systeme in der Produktion konsequent von der restlichen Unternehmens-IT zu entkoppeln.

IT&Production: Die vierte industrielle Revolution fasziniert und polarisiert Verbände, Politik, Gewerkschaften und Netzgemeinschaft. Was bedeutet es für die Dynamik der Entwicklung, wenn sich so viele Interessengruppen in die Diskussion einschalten?

Röhrig: Die meisten Neuheiten werden von Menschen chancengetrieben entwickelt. Daher werden neue Ideen zunächst mit der Sicht auf deren Chancen betrachtet. Danach schalten sich Menschen in die Diskussion ein, die vor allem die Risiken im Blick haben. Die Herausforderung besteht darin, die Risiken ernst zu nehmen und gleichzeitig die Chancen zu nutzen. Letztlich muss jedes Unternehmen für sich beantworten, wieviel Industrie 4.0 es nun haben sollte. Als Vorstandsvorsitzender des Fachverbands Software im VDMA beobachte ich, dass die deutschen Maschinenbauer das Thema ganz genau im Blick haben. Unternehmen kommen in Arbeitskreisen zusammen, um etwa über Best Practices zu diskutieren. Der Fachverband muss das Thema nicht treiben, sondern fungiert in Sachen Industrie 4.0 als Service-Stelle.

IT&Production: Auf dem Weg zur Industrie 4.0 werde Produktionsarbeit aufgewertet, heißt es häufig. In kommenden Fertigungsumgebungen wird jedoch mehr Intelligenz als zuvor in die Produktionstechnik verlagert. Liegt darin kein Widerspruch?

Röhrig: Technik hat in der Vergangenheit immer dazu geführt, einfache und monotone oder auch schwere körperliche Arbeit von Menschen auf Maschinen zu verlagern. Bei der Industrie 4.0 geht es um mehr: Hier sollen sämtliche am Produktionprozess beteiligte Komponenten und Sensoren vernetzt werden. Dann lassen sich dem Menschen bedarfsorientiert Informationen zum Beispiel so bereitstellen, dass er jederzeit Herr des Prozesses ist und steuernd sowie korrigierend eingreifen kann. Der Mensch wird in die Lage versetzt, Probleme zu antizipieren. Er wird zur Informations- und Schaltzentrale.

Nach unserem Verständnis ist das eine Aufwertung, die allerdings zukünftig eine andere Kompetenz und Ausbildung voraussetzt. Möglicherweise wird der Chef einer Arbeitsvorbereitung zukünftig kein Meister mehr sein, sondern ein Produktionstechniker, Ingenieur o.ä.

IT&Production: Sie haben einmal gesagt, dass künftig zunehmend in Netzwerk-Strukturen produziert werde. Wie funktioniert das und welche Vorteile soll dies bringen?

Röhrig: Nehmen sie Firmen mit mehreren Werken. Diese lassen sich so vernetzen, dass Kapazitäten, die im Werk A gebraucht werden und dort fehlen, von Werk B aufgefangen werden. Der Nutzen besteht in erster Linie darin, Aufträge termintreu erledigen zu können. Oder denken Sie an die Verzahnung der Automobilhersteller mit ihren Zulieferbetrieben, etwa im Bereich der Logistik. Die Fahrzeugsitze der Zulieferer werden zum Beispiel bei dem Automobilhersteller vom LKW abgeladen und direkt in der benötigten Produktionsreihenfolge an das Band befördert.

Die Netzwerkstruktur der Branche betrifft aber auch die Zusammenarbeit von Projektteams oder die wirtschaftliche Wiederverwendung von Baugruppen. Natürlich reden wir hier von der Großserienfertigung. Deren Anforderungen unterscheiden sich von denen eines Sondermaschinenbauers, der in Losgröße 1 fertigt. Trotzdem gehe ich davon aus, dass sich viele Methoden der Automobilindustrie auch in Branchen wie dem Maschinenbau etablieren werden.

IT&Production: Werker werden künftig mehr Entscheidungen treffen und vielleicht auch eine andere Ausbildung mitbringen müssen. Ist die Personalstruktur in der Fertigungsindustrie dafür gewappnet?

Röhrig: Menschen einzubeziehen und auszubilden war, ist und bleibt eine maßgebliche Herausforderung. Die Fertigung mit ihren zukünftigen Produktionstechniken muss beherrschbar bleiben. Daher müssen sich auch die Kompetenzen der Mitarbeiter anpassen. Für dieses Handlungsfeld sind wir alle verantwortlich, das beginnt schon in den Schulen. Häufig kommt zu kurz, die Jugendlichen früh für Technik zu begeistern.

Die GFOS unterhält beispielsweise im Rahmen der Wissensfabrik Deutschland eine Patenschaft mit zwölf Grundschulen, die wir mit technischem Material für ihren Sachkundeunterricht versorgen. Das hat mit Software nichts zu tun, sondern soll die jungen Menschen an Technik heranführen. Ich finde allerdings auch, dass einige Unternehmen und Verbände mehr tun können.

IT&Production: Sind die Ausbildungsgänge des dualen Systems in Deutschland geeignet, die Fachkräfte auf den Einsatz in der Werkhalle der Zukunft vorzubereiten?

Röhrig: Die Berufsausbildung in Deutschland konnte mit dem technischen Fortschritt bislang immer Schritt halten. Was wir brauchen, sind genügend ausbildungswillige Menschen, die sich für Technik und produktionsnahe Themen begeistern. Hier kann die Industrie im Vorfeld mit Praktika, mit Schnupperarbeit oder Ferienkursen einiges bewegen. Wir haben auch in der Vergangenheit kein Berufsausbildungsproblem gehabt, aber wir müssen die Leute dort abholen, wo sie stehen.

IT&Production: Was können Unternehmen im Wettbewerb um die fähigsten Mitarbeiter tun?

Röhrig: Viele Unternehmen machen bereits vieles sehr richtig. Ich bin jedoch der Meinung, dass Flexibilität keine Einbahnstraße sein sollte. Mit Industrie 4.0-Technik gewinnen Betriebe an Flexibilität. Davon können Unternehmen ihren Mitarbeitern einiges zurückgeben. Intelligente Arbeitszeitmodelle ermöglichen Mitarbeitern zum Beispiel auch mal kurzfristig – über einen entsprechenden Workflow – eine Schicht zu tauschen, um privaten Dingen nachzugehen. Wir haben uns gesagt, dass mit der informationstechnischen Vernetzung der Produktionsprozesse und aller beteiligten Mitarbeiter auch überlegt werden sollte, die Systeme zu nutzen, um etwa belastungsorientierte Pausenmodelle und Arbeitszeiten einzuführen.

Es mag nach wie vor monotone Arbeiten geben. Motivation könnte man erzeugen, indem bei einer solchen Tätigkeit nach einer Zeit x für eine Ablösung gesorgt wird. Die produktionsnahen Systeme, zumal im Industrie 4.0-Zeitalter, können das unterstützen. Vorgesetzte und Mitarbieter müssen hierfür allerdings umdenken und althergebrachte und bewährte Strukturen ablösen. Mit belastungsorientierten Pausenmodellen und Diensttauschbörsen haben wir so manchen Vermarktungserfolg erreicht, da sich damit auch für Mitarbeiter und Betriebsrat Nutzen aus dem Software-Einsatz einstellt und nicht nur für den Werksleiter und andere Produktionsverantwortliche.

IT&Production: Im Rahmen der Industrie 4.0-Debatte wurden MES-Lösungen schon als Brückentechnologie bezeichnet. Wie schätzen Sie das ein?

Röhrig: Dabei wird vielleicht vergessen, dass sich auch MES-Systeme weiterentwickeln werden. Unabhängig davon möchte ich sagen, dass unsere Anwendung teilweise selbst von Firmen in sachlicher Hinsicht als Bridge Software bezeichnet wird. Letztendlich übernehmen wir die Kommunikation mit den Maschinen und übermitteln Daten etwa zu einem Enterprise Resource Planning-System. Oft wird hier auch von einer Middleware gesprochen. Aber Begriffe sind ohnehin Schall und Rauch. Ob die Systeme übermorgen MES oder Middleware heißen, es wird in jedem Fall Software benötigt, um intelligente Vernetzung und Informationbereitstellung nutzen zu können. Da wollen wir dazugehören.