Gentelligente Bauteile

Smarte Produkte durch alle Phasen

Im Hinblick auf Industrie 4.0 ist eines der Hauptprobleme die Standardisierung des Datenaustausches in den verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus. Eine effiziente globale Vernetzung von Entwicklungs- und Produktionsprozessen erfordert eine verlustfreie Datenkommunikation der einzelnen Beteiligten und der eingesetzten Werkzeuge. Im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 653 ‚Gentelligente Bauteile im Lebenszyklus‘ wurde das Datenaustauschproblem mittels Verwendung des entwickelten XML-basierten GIML-Formats gelöst, das die Möglichkeit eines Informationstransfers über die verschiedenen Phasen des Lebenszyklus des Produktes einschließlich Konstruktion, Produktion und Nutzung gewährt.



Bild: Leibniz Universität Hannover

Industrie 4.0 eröffnet in der Produktionstechnik große Potenziale durch die Vernetzung von Maschinen und Anlagen sowie aller Prozesse entlang des Lebenszyklus eines Bauteils. Der Sonderforschungsbereich (SFB) 653 der Leibniz Universtität Hannover zeigt in mehreren Anwendungsszenarien die Ausgestaltung und den Nutzen von kommunikativen und intelligenten Systemen auf. Ein Ziel des SFB ist die Rückführung der in smarten Produkten – in ‚gentelligenten Bauteilen‘ – gespeicherten Informationen in die Produkt- und Produktionsevolution.

Daten sollen die Produktevolution steuern

So sollen zum Beispiel die von den Radträgern eines Fahrzeugs während der Fahrt erfassten Belastungsdaten zu einer Evolution, zu einer Gestaltoptimierung nachfolgender Bauteilgenerationen verwendet werden. Hierzu werden die Fähigkeiten gentelligenter Bauteile genutzt, beispielsweise Kräfte und Temperaturen zu detektieren. Diese gespeicherten Informationen aus dem Lebenszyklus und dem Produktionsprozess werden verwendet, um sowohl das Produkt als auch seine Fertigung anforderungsgerecht und effizient zu gestalten. Durch die Rückführung der im Lebenszyklus gesammelten und verifizierten Informationen an Konstruktions- und Fertigungsabteilungen erfolgt ein Adaptionsprozess.

Dafür wurden Informations- und Kommunikationstechnologien entwickelt, die die Erfassung, die bauteilinhärente Speicherung und den Austausch von Informationen über die verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus ermöglichen. Der vorgestellte Ansatz erweitert die unter Industrie 4.0 verstandene Datennutzung, indem neben der Vernetzung der Produktion auch die Sammlung, Speicherung und Verarbeitung von Produktdaten über den gesamten Produktlebenszyklus einschließlich der Nutzungsphase und der Entwicklungsphase ermöglicht wird. Damit werden die Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Produktgenerationen auf Basis gesammelter Daten aus der Produktion und der Nutzung früherer Generationen geschaffen. Um ein effizientes Informationsmanagement über den Produktlebenszyklus zur Verfügung stellen zu können, sind Informationsmodelle notwendig. Mit dem Ziel, relevante Informationen über den vollständigen Lebenszyklus des Bauteils zu übertragen, wurde ein vereinheitlichtes, geschlossenes GIML-Datenformat entwickelt.

Verknüpfung und Weiterverwendung

Informationen zum Produktlebenszyklus werden derzeit nur für eine Produktgeneration erhoben; es erfolgt keine Weitergabe und Verknüpfung mit neu zu entwickelnden Varianten zukünftiger Produktgenerationen. Wissen, das durch die Auswertung von Informationen generiert wird, kann dadurch nur verallgemeinert weitergeben werden. Eine produktspezifische Weitergabe ist nur bedingt möglich. Eine wesentliche Herausforderung bei der Verknüpfung und Weiterverwendung von Informationen liegt in der Definition eines flexiblen Datenformats, da sowohl während des Lebenszyklus als auch in einer nachfolgenden Produktgeneration zusätzliche Informationsformen in das bestehende Format integriert werden müssen. Dazu ist eine entsprechende Hierarchisierung notwendig.

Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht in der Zuordnung von Informationen: Informationen, die Eigenschaften des Produkts enthalten (zum Beispiel Produktverhalten) und zu Informationen, die Merkmale des Produkts beschreiben. Merkmale sind hier diejenigen Parameter eines Produktes, die durch den Entwickler definiert werden können. In der Regel sind eigenschaftsbeschreibende Informationen wie zum Beispiel Nutzungs- oder Fertigungsinformationen inhärent auf die Gestalt eines Produkts bezogen. Wird diese verändert, sind diese Informationen nicht mehr verwendbar. Dieser Aspekt betrifft sowohl die unterschiedlichen Phasen eines Produktlebenszyklus (Produktmodell, Gestaltveränderung während der Fertigung und der Nutzung) als auch die nächsten Produktgenerationen, in denen durch Anpassungs- und Variantenentwicklung bestimmte Produktmerkmale verändert werden. Aus diesem Grund enthält das hier dargestellte GIML-Austauschformat sowohl eine merkmalsbasierte als auch eine lebenszyklusorientierte Hierarchie. Das Datenformat ist offen und erlaubt die flexible Speicherung erweiterter Daten wie zum Beispiel Produkt, Prozesskräfte, Qualitätsbewertung et cetera.



Durch die Rückführung der im Lebenszyklus gesammelten und verifizierten Informationen an Konstruktions- und Fertigungsabteilungen erfolgt ein Adaptionsprozess.
Bild: Leibniz Universität Hannover

Hohe Skalierbarkeit ist gewährleistet

Auf der semantischen Ebene der hierarchischen Gentelligent Markup Language (GIML) wird eine hohe Skalierbarkeit in Bezug auf verschiedene Anwendungsfälle im Lebenszyklus eines Bauteils gewährleistet. Als Grundlage für die Textdarstellung gentelligenter Informationen verwendet GIML die Extensible Markup Language (XML). Hierbei wird GIML durch die Implementierung eines XML-Schemas realisiert, wodurch zulässige Struktur und Datentypen einer bestimmten GIML-konformen XML-Datei festgelegt werden. Bei Bedarf, etwa aufgrund von beschränkter Speicherkapazität, können GIML-Dateien optional mittels Efficient XML Interchange (EXI) in eine binäre Darstellung komprimiert werden.

Der EXI- Kompressionsalgorithmus nutzt die durch die GIML-Spezifikation vorgegebene strenge syntaktische Struktur von XML-Dokumenten aus und ermöglicht für typische Dateien wie Arbeitspläne Kompressionsraten von bis zu 20:1. In Anwendungsfällen, bei denen zusätzlich eine erhöhte Sicherheit gewünscht wird, ist es möglich, die GIML-Datei mit einem Public-Key-Kryptosystem etwa nach dem RSA-Verfahren zu verschlüsseln und zu signieren. Bezüglich der merkmalsbasierten Hierarchisierung enthält das GIML-Format die Produkt-, Komponenten-, Bauteil-, Gestaltelement-, Feature-, Produktions- und Nutzungsebenen.

Während Produkt-, Komponenten- und Bauteilebene eine klassische physische Sichtweise auf ein Produkt beziehungsweise dessen Struktur darstellen, ist die Gestaltelementebene eine virtuelle Sichtweise auf bestimmte Teile eines Produktes. Zur Unterstützung lebenszyklusübergreifender Produktmodelle wurde mit dem Ansatz der generativen parametrischen Modellierung ein Ansatz entwickelt, der es ermöglicht, Produkte über sogenannte Gestaltelemente zu modellieren. Ein Gestaltelement besteht aus einem parametrischen Partialmodell, das eine bestimmte Lösung für einen kleinen Teilbereich einer Konstruktion darstellt. Gestaltelemente sind unabhängig von der oben beschriebenen physischen Aufteilung eines Produkts in Bauteile. Das heißt, ein Element kann auch Teilbereiche unterschiedlicher Bauteile enthalten, beispielsweise zur Modellierung einer bestimmten Verbindung unabhängig von der Anschlussgeometrie der übrigen Bauteile.

Diese virtuelle Sichtweise auf die Gestalt eines Produktes ermöglicht es, Informationen genau mit den betreffenden Merkmalen in Beziehung zu setzen und diese unabhängig von der aktuellen Produktgeneration zu speichern. Wird ein Gestaltelement oder eine bestimmte Kombination von Elementen in einer späteren Produktgeneration wiederverwendet, stehen die Informationen innerhalb der neuen Lösung zur Verfügung und können um aktuelle Informationen ergänzt werden.



Nach dem Fertigungsprozess werden der erworbene Prozess und die Produktinformationen in das GIML-Format transferiert und auf dem Bauteil inhärent gespeichert.
Bild: Leibniz Universität Hannover

Dynamische Arbeitsplanung und Prozessbewertung

Ein konkreter Anwendungsfall der erzeugten Bauteilgeometriebeschreibung für den Produktionsprozess in Form von Features (Fräse, Bohrung, Tasche et cetera) besteht in der dynamischen Arbeitsplanerstellung. Die erhaltenen Informationen beschreiben die zu fertigenden Merkmale und dienen als Grundlage für die Erstellung des Arbeitsplans. Mit Hilfe der entwickelten Ontologie, also der Beschreibung von Abhängigkeiten zwischen Formelementen, Prozessen, Maschinen und Werkzeugen, werden alle möglichen Prozesse und Arbeitsmittel für die Fertigung der Features bestimmt. Durch die Nutzung von Data-Mining-Techniken können diese Fertigungsrouten technologisch und wirtschaftlich bewertet werden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Maschinenzustände und Auslastungen wird eine dynamische Auswahl der besten Route vorgenommen. Der ausgewählte Prozessplan wird in ein Lebenszyklusdatenformat übertragen und als GIML-Datei gekennzeichnet. Nach dem Fertigungsprozess werden der erworbene Prozess und die Produktinformationen in das GIML-Format transferiert und auf dem Bauteil inhärent gespeichert.

Bauteilstatus-getriebene Instandhaltung

Eine weitere Möglichkeit zur Nutzung der gesammelten Daten aus der Fertigungs- und Nutzungsphase gentelligenter Bauteile bietet deren Auswertung hinsichtlich der Ableitung und Planung optimaler Instandhaltungszeitpunkte und -maßnahmen. Eine solche zustandsorientierte Instandhaltung bietet insbesondere hinsichtlich der Vermeidung von Spontanausfällen ermüdungsgefährdeter Bauteile ein hohes Potenzial, da Ermüdungserscheinungen äußerlich am Betriebsverhalten meist nicht erkennbar sind und die Überwachung im laufenden Betrieb oftmals zudem nur bedingt möglich ist.

In diesem Zusammenhang wurde eine Methodik zur Bauteilstatus-getriebenen Instandhaltung gentelligenter Bauteile entwickelt: Auf Basis der gesammelten Erfahrungsdaten aus der Fertigung und während der Anwendung kann der Bauteilzustand abgeleitet und eine Prognose der Restlebensdauer ermittelt werden. Hierdurch können das Nutzungspotenzial von Bauteilen zunehmend ausgeschöpft, die Instandhaltungskosten gesenkt und die Effizienz der Ersatzteillogistik gesteigert werden. Schließlich werden identifizierte geeignete Instandhaltungsmaßnahmen sowie die Belastungs- und Nutzungshistorie in das GIML-Format transformiert und inhärent auf dem Bauteil gespeichert. Diese im GIML-Format gespeicherten Informationen können sowohl an nachfolgende Produktgenerationen durch ein evolutionäres Design vererbt werden als auch für Service-Dokumentation genutzt werden.