„Die Fertigungsindustrie ist nicht mit einem Konsumenten vergleichbar, der dann ein neues Smartphone kauft, wenn ein neues Modell auf den Markt kommt und er Geld dafür frei hat.“ (Olaf Sauer)

Technologie nüchtern betrachtet

Kletti: Viele der vordergründig neuen Technologien erwecken in mir den Eindruck, dass sie gar nicht so neu sind. Betrachtet man beispielsweise die Cloud etwas abstrakter, so ist das doch nichts anderes als ein Speichermedium einerseits und ein Applikationslieferant andererseits. Herkömmliche Informationstechnologie wird einfach moderner dargestellt.

Sauer: Letztendlich ist die Cloud nur ein anderer Abrechnungsmechanismus kombiniert mit der Möglichkeit, seine Daten dort abzulegen.

Kletti: Sogar im Shop Floor spricht man bereits von Cloud-Technologie und nennt das dann Fog. Aber das widerspricht alles nicht den bisherigen Ansätzen. In meinen Augen ist es absolut stimmig, wenn wir die Daten in Echtzeit im Fog erfassen, dort vorverdichten, in der Cloud mit einer App auswerten und daraus Schlüsse für Optimierungen ziehen. Das klingt modern, ist aber letztendlich nichts anderes als das, was wir heute mit MES machen.

Sauer: Genau darum geht es auch bei Big Data. Es ist ein Irrglaube, dass Big Data in erfassten Daten unbekannte Zusammenhänge findet – das brauchen wir auch nicht. Stattdessen geht es wie immer um Zeit, Qualität und Kosten. Diese drei Hauptparameter der Fertigung müssen wir im Griff behalten und verbessern.

Ist Big Data zu kurz gesprungen?

Kletti: Im Rahmen der Hannover Messe habe ich am Dell/Intel-IIoT-Think Tank teilgenommen. Dort wurden im Wesentlichen Themen wie Cloud und Big Data diskutiert, woraus man schließen könnte, dass dies zwingend notwendige Technologien für Industrie 4.0 sind. Aber wenn ich einen Fertigungsleiter frage, ob er seine Daten schon in der Cloud hat, dann fragt der erst mal zurück: Welche Daten? Somit müsste man ihn zunächst darüber aufklären, dass er Daten benötigt und wie er diese erfassen kann. Und erst dann würde ihm die Empfehlung helfen, diese Daten in der Cloud zu speichern. Hier läuft der IT-Markt soweit vor dem Thema Industrie 4.0 her, dass die eigentliche Anwendergemeinde ihn schon gar nicht mehr sieht.

Sauer: Wir hatten ja schon 2013 festgestellt, dass es wenig Sinn hat, wenn Industrie 4.0 von den großen IT-Anbietern getrieben wird – und das bewahrheitet sich immer mehr. Es muss vielmehr von den Anwendern, also von den Fertigern mitgetragen wenn nicht sogar angeführt werden. Die Fertigungsindustrie ist an dieser Stelle nicht mit einem Konsumenten vergleichbar, der dann ein neues Smartphone kauft, wenn ein neues Modell auf den Markt kommt und er Geld dafür frei hat. In der Produktion kauft man keine IT um der IT Willen, sondern jede Investition hat mit Zeit, Qualität und Kosten zu tun. Daran ändert sich auch mit Industrie 4.0 nichts. Die Kriterien, die Fabrikbetreiber und Konsumenten an eine Investition anlegen, unterscheiden sich grundliegend – und dem müssen sich auch die Anbieter stellen. IT ist an sich nichts anderes als ein Werkzeug und als solches bewertet es der Anwender auch.

Kletti: Aber Industrie 4.0 bedeutet doch mehr als IT in der Fertigung, oder? Neulich hat mal jemand gesagt, dass das, was MES heute macht, morgen alles von Big Data Analytics übernommen wird. Da frage ich mich, ob der Urheber dieser Behauptung jemals in einer Fabrikhalle war oder sich damit beschäftigt hat, Daten aus einer Maschine auszulesen.

Sauer: Und genau hier haben wir noch eine ganz große Baustelle. Auch wenn in diesem Zusammenhang immer wieder OPC UA als Schlagwort fällt, muss man bedenken, dass OPC UA nur ein Container ist und keine semantische Lösung für das Datenerfassungsproblem.




Bild: MPDV Mikrolab GmbH

Kletti: Genau. Es reicht nicht aus, Daten nur zu erfassen. Diese müssen auch gedeutet und so dargestellt werden, dass der Meister in seiner Fertigung etwas davon hat. Um das leisten zu können, müssen auch diese Analytics-Anbieter noch eine ganze Menge Hausaufgaben erledigen. Es ist ein Irrglauben, man könne ein MES ganz einfach durch Big Data Analytics ersetzen, denn Big Data kann ein MES lediglich unterstützen und ergänzen.

Sauer: Big Data ist nur ein Werkzeug, genau wie die Cloud auch nur eine Darreichungsform von Software ist.

Viele interessante Anwendungsfälle

Sauer: Neben dem reinen Betrieb der Fertigung dürfen wir aber auch die vorangehende Engineering-Kette nicht vergessen. Wirklich passende Ideen gibt es dazu aber noch wenig. Bei Licht betrachtet kommt immer nur das eine Beispiel: Predictive Maintenance. Dabei gibt es in der Fertigung so viele interessante Anwendungsfälle. Predictive Maintenance hat zwar einen prägnanten Namen, ist aber nicht wirklich repräsentativ für die Fertigung.

Kletti: Nehmen wir beispielsweise die reaktive Fertigungssteuerung oder – noch pragmatischer – den KVP-Ansatz. Mit den in der Fertigung erfassten Daten kann man beide Anwendungsfälle wunderbar befeuern und sogar weiterentwickeln. Mit Industrie 4.0 hätten wir die Chance, auf Basis von Online-IT eine komplett kundenorientierte Fertigungsregelung zu schaffen, inklusive Störungsmanagement. Auch würden wir damit dem Dilemma begegnen, dass entsteht, wenn ein Serienauftrag in Konkurrenz zu einem Projektauftrag steht. Der Mensch könnte hier eine sinnvolle Entscheidung treffen, ein selbstorganisierendes System sicher nicht. Dazu müsste man die komplette Erfahrung und auch das Bauchgefühl des Planers in Algorithmen abbilden.

Sauer: Sicherlich hat es mehr Sinn, an die eine oder andere Stelle einen Menschen zu setzen, bevor man aufwendige Programme und Algorithmen schreibt. Die menschenleere Fabrik kann und möchte ich mir auch in Zukunft nicht vorstellen.

In vier Stufen zur ‘Smart Factory’

Kletti: In unserem aktuellen Whitepaper ‘Industrie 4.0 konkret’ schlagen wir ein einfaches Vier-Stufen-Modell vor, das Fertigungsunternehmen als Handlungsempfehlung dienen kann. Erste Stufe ist die transparente Fabrik. Das heißt, dass Unternehmen zeitnah wissen müssen, was in ihrer Produktion gerade passiert. Darauf setzt die reaktionsfähige Fabrik auf – also eine Verdichtung der erfassten Daten, so dass schnell erkennbar wird, welche Konsequenzen eine Veränderung im Shop Floor hat. Dann kommt die selbstregelnde Fabrik, in der man auf Basis der Reaktionsfähigkeit eine Regelung aufbauen kann. Und schließlich die funktional vernetzte Fabrik, die den Blick auf angrenzende Prozesse und Systeme wie PLM, Energie- und Gebäudemanagement ausweitet.

Sauer: Das passt zu den Aussagen im Leitfaden Industrie 4.0 vom VDMA. Bei den ersten beiden Stufen ‘Transparenz’ und ‘Reaktionsfähigkeit’ stimme ich Ihnen zu. Das ist die absolut notwendige Basis. Die dritte Stufe ‘Selbstregelung’ ist schon die ganz hohe Kunst.