Autonomes Fahren und Fahrassistenzsysteme
Das Acht-Milliarden-Kilometer-Rennen
Um bei der Entwicklung von Fahrassistenzsystemen und autonomen Fahrzeugen voranzukommen, müssen neue Ingenieursdisziplinen wie die künstliche Intelligenz ausgebaut werden. Jedoch sind laut aktuellen Schätzungen bis zu wirklich sicheren und zuverlässigen Systemen und Fahrzeugen Milliarden von Testkilometern notwendig. Was in der Praxis unmöglich scheint, lässt sich durch IT-gestützte Simulation tausender Fahrszenarien mit unterschiedlichen Designparametern schon eher erreichen.
Autonome Fahrzeuge könnten Industrie und Gesellschaft so stark verändern, wie der Wechsel von Pferdekutschen zu Automobilen im 19. Jahrhundert. Doch die Entwicklung autonomer Fahrzeugtechnologie verlangt ambitionierte Neuentwicklungen in Erkennungstechnik, maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz. So besteht die wesentliche Herausforderung darin, einen menschlichen Fahrer durch künstliche Intelligenz zu ersetzen. Denn der Computer eines autonomen Fahrzeugs muss andere Fahrzeuge, Fußgänger, Verkehrszeichen, Fahrbahnmarkierungen, Bäume, Gebäude, Ampeln und viele andere Dinge erkennen, denen wir während der Fahrt begegnen. Und dies selbstverständlich auch bei Dunkelheit, Regen und Schnee. Die Aufgabe ist mit herkömmlichen regelbasierten Computeralgorithmen nahezu unlösbar. Stattdessen müssen neuronale Netze und maschinelles Lernen zum Einsatz kommen. Bei diesen Methoden wird der Computer eher trainiert als programmiert. Das Fahren ist aber eine so komplexe Aufgabe, dass eine immense Anzahl an Trainingsstunden nötig werden, um einen Computer so sicher und zuverlässig wie einen menschlichen Durchschnittsfahrer fahren zu lassen. Akio Toyoda, Präsident der Toyota Motor Corporation, nannte erst im Herbst 2016 die Zahl von 8,8 Milliarden Testkilometern inklusive Simulation, die zur Entwicklung von selbstfahrenden Autos benötigt werden. Google fuhr mit seiner Flotte selbstfahrender Fahrzeuge in den letzten sechs Jahren zwei Millionen Testkilometer. Bei diesem Tempo käme das selbstfahrende Auto in ein paar Jahrtausenden in den Handel.
Simulation nötig und nützlich
Ohne die Simulation zur Beschleunigung der technologischen Entwicklung wird es nicht gehen. So können virtuelle Tests an virtuellen Prototypen durchgeführt werden. Es können tausende von Simulationen innerhalb der Zeit und dem Budget vollendet werden, die für einen einzigen physikalischen Test erforderlich sind. Simulationen unterstützen zudem auf dem Weg zum vollständigen Selbstfahrer, indem sie Produkteinführungen beschleunigen und dadurch auch Geld einsparen. Zudem sind virtuelle Tests noch meist günstiger als Tests auf der Straße. Hinzu kommt eine verbesserte Produktqualität aufgrund der tiefen Einblicke in die zugrunde liegende Physik, welche die Konstruktion und den Betrieb eines Produkts bestimmt. Simulation spielt eine wesentliche Rolle, Qualitätsprobleme vorab zu lösen. Mit Blick auf die genannten Vorteile und den geschätzt notwendigen Milliarden an Testkilometern überrascht es kaum, dass Hersteller von Fahrassistenzsystemen und autonomen Fahrzeugen auf Simulationen setzen. Der Hersteller von Simulationssoftware Ansys hat sechs Bereiche beschrieben, die sich mit den eigenen Lösungen bearbeiten lassen:
1. Simulation von Fahrszenarien
Umfassende Simulationen von Fahrszenarien können mit einem System-Verhaltensmodell eines autonomen oder teilautomatisierten Fahrzeugs durchgeführt werden. Solch ein Fahrzeugmodell beinhaltet Sensoren, Regelsysteme, Antriebssysteme und Karosserie, platziert in einer virtuellen Fahrumgebung bestehend aus Straßen, Gebäuden, Fußgängern, Beschilderung und so weiter. In dieser simulierten Umgebung können tausende Fahrszenarien evaluiert werden, um zu prüfen, ob die Fahrzeugsensoren, Regelalgorithmen und Fahrsysteme sich situationsabhängig wie erwartet verhalten. Die Ansys-Simulationsplattform verknüpft in ihrer Kategorie eine ganze Reihe von Werkzeugen, um Fahrsimulationen von autonomen Fahrzeugen durchzuführen. Der Thin[gk]athon, veranstaltet vom Smart Systems Hub, vereint kollaborative Intelligenz und Industrie-Expertise, um in einem dreitägigen Hackathon innovative Lösungsansätze für komplexe Fragestellungen zu generieren. ‣ weiterlesen
Innovationstreiber Thin[gk]athon: Kollaborative Intelligenz trifft auf Industrie-Expertise
2. Software und Algorithmen
Simulationen helfen bei der Hardware- und Softwareentwicklung. Gerade die Entwicklung und Tests von Signalverarbeitungsroutinen, Objekterkennungsfunktionen, Regelungsalgorithmen und Mensch-Maschine-Schnittstellensoftware mit Methoden der modellbasierten Softwareentwicklung machen eine Software robust, weniger fehleranfällig und sicherer. Zudem soll die Ansys-Lösung die modellbasierte Entwicklung eingebetteter Software mit einem ISO26262-zertifizierten Code-Generator deutlich beschleunigen. Das Scade-Softwareentwicklungspaket ist Teil der Simulationsplattform und kann in Programme anderer Softwarefirmen eingebunden werden, die etwa Funktionen für maschinelles Lernen und neuronale Netze bereitstellen.
3. Sicherheitsanalyse
Fahrassistenzsysteme und autonome Fahrtechnologien erhöhen die Komplexität eines Fahrzeugs deutlich. Die Zahl der Fehlerquellen steigt ebenso wie die Zahl der Pfade für Fehlerkaskaden. Die Funktionen dieser Systeme haben grundsätzlich Folgen für die Sicherheit – jeder Fehler kann katastrophale Auswirkungen haben. Doch funktionale Sicherheitsanalysen solcher Systeme sind mühsam und fehleranfällig. Daher sind automatisierte Werkzeuge für diese Aufgabe sehr hilfreich. Hier bietet die Simulationsplattform mit Medini Analyze ein Modul, das Kern-Aktivitäten der funktionalen Sicherheitsanalyse implementiert und in den Produktentwicklungsprozess integriert.
4. Sensorleistung simulieren
Sensoren sind Schlüsselkomponenten für automatisches und autonomes Fahren. Doch viele müssen erst noch entwickelt werden. Hier leisten die Simulationen einen Beitrag, indem sie hochaufgelöste Physik für die Vorhersage der Leistung von Sensoren wie Radar, V2X Antennen und Ultraschallsensoren verwendet. Insbesondere sagt die Simulation Radar-muster und die Ausbeute in spezifischen Fahrszenarien vorher, das kann zeitintensive Versuche unnötig machen. Außerdem berechnet die Simulation Änderungen der Radarleistung, zum Beispiel bei Regen oder Schnee. Für die Simulation des Automobilradars bringt die Plattform einen Löser für elektromagnetische Felder sowie einen Path Tracing-Löser mit.
5. Elektronische Hardware
Automatische und autonome Fahrzeuge enthalten weit mehr elektronische Komponenten als heutige Fahrzeuge. Dazu zählen Radar, Lidar, Kameras und andere Sensoren. Viele dieser Komponenten sind kritisch für die Sicherheit. Deshalb muss ihre Hardware entworfen werden, um elektrischen, thermischen, mechanischen und Vibrations-Belastungen über den Lebenszyklus ausfallfrei zu widerstehen. Auch dabei beschleunigt die Simulation das Testen von Entwürfen und liefert Einblicke in die Physik, damit Ingenieure Komponenten optimieren und robust gestalten können. Mit verschiedenen Tools lassen sich per Simulation physikalische Phänomene in elektronischen Paketen, Platinen, Einbauten und Systemen testen.
6. Halbleitersimulation
Autonome Fahrzeugsysteme sind rollende Computer. Sie müssen hohe Leistung bei Signalverarbeitung und Berechnung in Echtzeit lokal abrufen können. Die Halbleiter-Hersteller machen dies mit ihren Bauteilen möglich: Die Chips haben immer bessere Leistung, geringeren Energiebedarf, sind strukturell und thermisch zuverlässiger und noch dazu kleiner. Doch gerade schrumpfende Bauteilgeometrien stellen die Entwickler vor Herausforderungen. Simulationssoftware hilft ihnen dabei, die physikalischen Effekte in den Griff zu bekommen.
Es geht nicht ohne
Die Fahrzeugindustrie steht vor Quantensprüngen. Doch umsonst gibt es sie nicht. Um technisch die Nase vorn zu haben, muss kein Hersteller die vollen 8,8 Milliarden Kilometer bis zum autonomen Fahrzeug komplett simuliert haben. Aber auf dem Weg dorthin bietet erst Simulation die Grundlage, stets Modelle mit der besten verfügbaren Technik am Markt zu haben.