Virtuelle Inbetriebnahme

Auf dem Weg in die autonome Fertigung

Maschinen und Anlagen mit immer mehr Sensoren auszustatten, macht eine Fabrik noch nicht intelligent. Die ‚Nervenbahnen‘ brauchen ein digitales ‚Gehirn‘, das die Fertigungslogik kennt und die Bedeutung der Signale interpretieren kann. Zusammen bilden sie den digitalen Zwilling, der die virtuelle Inbetriebnahme von Anlagen und ihre Überwachung im laufenden Betrieb ermöglicht. Was dieser Digital Twin leisten soll, muss aber schon bei der Anlagenplanung berücksichtigt werden.

Clemens Launer (links im Bild), kaufmännischer Geschäftsführer, und Raino Petricevic, technischer Geschäftsführer von Indtact.
Bild: Indtact GmbH

Sensoren allein machen noch nicht die Intelligenz einer Fabrik aus, sagt auch Clemens Launer, Geschäftsführer der Indtact GmbH: „Sie entsteht erst im Zusammenspiel mit Elektronik und Software, die aus den gesammelten Daten ein virtuelles Abbild des realen Geschehens erzeugen.“ Aus diesem Grunde kooperiert das auf Sensorik spezialisierte Systemhaus mit der Ascon Systems GmbH, die ein echtzeitfähiges Shopfloor Control System für den Aufbau digitaler Zwillinge entwickelt. Dritter im Bunde ist die SG Engineering GmbH, die Anlagen für Automobil- und Sondermaschinenbau entwickelt und ihre Kunden von den Vorteilen eines Digital Twins überzeugen möchte. Vertreter der drei Firmen erklären, wie sie industriellen Anwendern gemeinsam weiterhelfen wollen. Die Unternehmen in Automobilindustrie und anderen produzierenden Branchen stehen vor der Herausforderung, ihre Produkte schneller auf den Markt zu bringen, wie Ascon-Geschäftsführer Mathias Stach sagt. „Sie müssen vor allem den Produktionsanlauf beschleunigen, sonst werden sie von Newcomern überholt, die sich keine Gedanken darüber zu machen brauchen, wie sie ihre teuren Anlagen amortisieren.“ Eine zweite Herausforderung ist die Flexibilisierung der Produktion: Eine Produktionslinie für zwei Fahrzeugmodelle auf ein drittes umzurüsten, erfordert heute einen enormen Aufwand, weil die dahinter steckende IT hochproprietär und die Steuerungslogik hart in die Anlage einprogrammiert ist. Eines der Probleme mit Brownfield-Anlagen ist außerdem, dass die Informationen für eine intelligente Steuerung nicht ausreichen. „Ihnen fehlen gewissermaßen die Augen und Ohren, und da sind wir dann schnell bei der Sensorik“, sagt Stach. „Ohne Rückkopplung der Daten aus dem Shopfloor passt der Planungsstand in kürzester Zeit nicht mehr mit dem zusammen, was in der Produktion passiert. Nur wenn es uns gelingt, schon in der Planungsphase die Verknüpfung zum digitalen Zwilling herzustellen, können wir die Planungsmodelle im laufenden Betrieb anpassen. Heute gibt es Technologien, um die Wirkweise von SPS oder Steuerung digital abzubilden, die uns vor fünf Jahren noch nicht zur Verfügung standen.“

Späte Änderungen am Anlagenkonzept vermeiden

Die vollständige Digitalisierung der Anlagen, einschließlich Elektrik, Steuerungssoftware, SPS und so weiter ist wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines digitalen Zwillings, mit dem die Funktionsweise einer Anlage in der Planungsphase zuverlässig simuliert und im späteren Betrieb mit weniger Aufwand angepasst werden kann. Davon ist man in der Realität noch weit entfernt, schildert Stefan Glanz, Geschäftsführer von SG Engineering. Meist wird erst mal die mechanische Konstruktion und Simulation beauftragt, die aber eine rein kinematische Simulation der Abläufe ist. Ob das später steuerungstechnisch umgesetzt und geschaltet werden kann, weiß man erst, wenn Elektrik und SPS an Bord kommt. „Das führt immer wieder dazu, dass wir das Anlagenkonzept bei 70 Prozent Reifegrad noch einmal ändern müssen“, sagt Glanz. „Der Digital Twin wäre nicht nur für uns eine enorme Erleichterung, sondern würde auch dem Betreiber viel Zeit bei der Inbetriebnahme sparen.“ Die Schwierigkeit, vor der die Anlagenplaner heute stehen ist, dass die Auftraggeber ihnen viele Informationen für die Digitalisierung der Anlagen zu spät zur Verfügung stellen und dass der Planungsprozess durch viele Medien- beziehungsweise Systembrüche lückenhaft, fehleranfällig und ineffizient wird. Die heute verfügbaren Lösungen für CAD und digitale Fabrikplanung seien nicht durchgängig genug, bemängelt Stach: „Wir wollen die digitalen Anlagenmodelle mit der Digitalisierung sämtlicher Signalströme und aller Anlagendaten, einschließlich der Steuerung und SPS verknüpfen, damit die Planer etwa bei Auftraggebern, Systemlieferanten und Engineeringdienstleistern über eine einfache Oberfläche auf alle Daten zugreifen können.“ Der digitale Zwilling der Ascon-Systems stellt den Planern relevante Daten in eine Art Bibliothek zur Verfügung, aus der sie bestimmte Elemente oder Funktionsbausteine herausnehmen und miteinander verbinden können. Die Bibliothek enthält nicht nur Bausteine für die Betriebsmittel, sondern auch für die Sensorik, Aktorik et cetera mit der dazugehörigen Steuerungslogik, soweit sie die Wertschöpfung beeinflusst. Daraus folgt, dass Änderungen an diesen Bausteinen sofort in allen Anlagen wirksam sind, in denen sie verbaut sind. „Die Kunst besteht darin, das semantische Netz so aufzubauen, dass alle für die Funktionsfähigkeit einer Anlage relevanten Daten abgebildet sind,“ betont Stach. Das ist die Voraussetzung, um sie unter realen Bedingungen simulieren zu können.

Mathias Stach, Geschäftsführer der Ascon GmbH
Bild: Ascon System GmbH
Stefan Glanz, Geschäftsführer von SG Engineering
Bild: SG Engineering

Simulation unter realen Bedingungen

„Die Anlagen virtuell in Betrieb zu nehmen ist keine ganz neue Idee, aber im ersten Anlauf gescheitert, weil die Offline-Programmierung am PC nie so funktionierte, wie man sich das vorstellte“, sagt Glanz. Grund dafür sei, dass die Wirkweise der Elektronik nie genau simuliert werden konnte. Es waren immer nur Näherungen, wie Stach sagt. „Erst mit der neuen Generation von Software zur virtuellen Inbetriebnahme ist es möglich, die Wirkweise bis auf Ebene eines Feldbusses in Echtzeit zu simulieren. Die Echtzeit spielt hier eine ganz wichtige Rolle. Sie erlaubt es, Hard- und Software unter wirklichkeitsnahen Bedingungen zu simulieren. Dadurch spart man sich im Anlauf locker zwei Monate, weil man ohne die ganzen Testläufe und Anpassungen auskommt.“ In der Praxis sind es heute die Automatisierungstechniker, die mit viel manuellem Aufwand die Anlagen zum Laufen bringen und am Laufen halten. Sie sorgen an den Nahtstellen zwischen Anlage, Steuerung, SPS und IT-Systemen dafür, dass die Anlage genau das macht, was sie machen soll. „Der manuelle Aufwand ist deshalb so groß, weil sie relevante Steuerungsinformationen an einem Zellenrechner eingeben oder sogar direkt an der Anlage programmieren“, erläutert Stach. „Unser Ziel ist es, diese Informationen leichter zugänglich machen, indem wir die Programmierung auf eine höhere Ebene heben und die Steuerungssoftware einfacher konfigurierbar machen.“ Die virtuelle Inbetriebnahme unter realen Bedingungen soll sicherstellen, dass sich eine Anlage in China wie das Modell verhält, das vielleicht irgendwo in Stuttgart simuliert wurde. Oder fast genauso, wie Launer sagt, und deshalb ist es so wichtig, sie mit Hilfe der Sensorik online zu überwachen. „Wenn die Chinesen zum Beispiel ein Öl mit einer anderen Viskosität verwenden, wird die Anlage in ihrer Gesamtbewegung vielleicht um ein paar Millisekunden langsamer und fängt an, aus dem Takt zu laufen. Durch Online-Monitoring können solche Sachen schneller entdeckt und bei der Planung der nächsten Anlage berücksichtigt werden.“

Qualitätsprüfungen mit dem Sensor

Von der Zusammenarbeit mit Indtact und Ascon verspricht sich SG Engineering neue Ideen für ‚intelligente‘ Anlagen. Warum diese Intelligenz schon bei der Planung berücksichtigt werden muss, zeigt Glanz an einem Beispiel: „Man kann etwa in einer Schweißvorrichtung ein Sensorsystem anbringen, das anhand der Auswertung der akustischen Signale prüft, ob alle Schweißpunkte für die Verbindung von Bodengruppe und Seitenteil korrekt gesetzt sind. Heute werden dafür Fahrzeuge ausgeschleust, um die Schweißpunkte stichprobenartig zu prüfen. Das Ausschleusen und die Vorhalteplätze könnte man sich durch einen Sensor sparen.“ Launer erläutert, wie die Prüfung der Schweißpunkte im Prinzip funktioniert: „Beim Setzen eines Schweißpunktes entsteht ein Körperschall, der eine Mischung aus Eigenschwingung des Materials und Prozessgeräusch ist. Die daraus abgeleiteten Parameter wie Signalform, Pegel und Frequenzanteile sind gewissermaßen ein Fingerabdruck des Prozesses.“ Um die Qualität der Schweißpunkte im laufenden Prozess zu prüfen, werden solche ‚Fingerabdrücke‘ im Digital Twin hinterlegt, so dass jeder Schweißpunkt in Echtzeit auf Abweichungen davon geprüft werden kann. Die Sensorsysteme von Indtact messen Schwingungen und Belastungen in Kombination mit Körperschall – zum Beispiel durch akustische Emissionen – und erfassen damit wichtige Größen, die Rückschlüsse auf den Zustand von Maschinen oder Prozesse ermöglichen. Sie registrieren beispielsweise, wenn Material anfängt zu brechen, sie zeichnen die Bewegung eines Gegenstands auf und die Belastung, der er dabei ausgesetzt war; sie spüren Lecks in Vakuumfolien auf, messen die Verteilung von Kräften und bemerken den Verschleiß eines Kugellagers, bevor es bricht, so dass rechtzeitig ein Ersatzteil angefordert werden kann.

Virtuelle Inbetriebnahme - Sensortechnik in der Automobilfabrik
Bild: Fotolia / Nataliya Hora

Sensorsignale allein reichen nicht

„Unsere Sensorsysteme sind in der Lage, aus den Signalen gezielt bestimmte Informationen zu ziehen, aber erst die Verbindung mit Lösungen wie der von Ascon Systems ermöglicht ihre effektive Verwertung“, sagt Launer, der kein großer Freund vom Big Data-Begriff ist. Entscheidend sei nicht so sehr die Datenmenge, sondern die Relevanz der Daten. Deshalb braucht man Software, die nichtrelevante Signale herausfiltert. Die Filterung ist unter anderem deshalb wichtig, weil die Datenübertragung auf dem Shopfloor an Grenzen stößt. „Während Rechner bei der Datenverarbeitung inzwischen schneller sind als das menschliche Gehirn, sind wir bei der Übertragung noch nicht soweit“, führt Launer aus. „Deshalb müssen wir uns ständig fragen, wie viele Daten ein System an den nächsten Knoten weitergeben kann. Kritisch ist vor allem der erste Meter von der Sensoreinheit bis zum Gateway und von dort zu den (Cloud-) Servern. Hier fallen in der Regel die größten Datenmengen an.“ Der Hype um Industrie 4.0 hat viele Unternehmen zur Vorstellung verleitet, dass es ausreicht, überall Sensoren einzubauen und aus den Sensordaten dann mit Hilfe Künstlicher Intelligenz und Big Data Analytics etwas Sinnvolles zu machen. Nach der ersten Ernüchterung hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass man Kontext und Fertigungslogik kennen muss, um aus den Daten einen Mehrwert zu ziehen. „Unsere Software bringt diesen Kontext mit der Funktionsweise der Anlagen zusammen. Aber wir brauchen den engen Schulterschluss mit Anlagenplanung und Sensorik, um den Mehrwert für unsere Kunden nutzbar zu machen“, fasst Stach das Ziel der Zusammenarbeit der drei Firmen zusammen.

Virtuelle Inbetriebnahme - Sensortechnik liefert Daten für nachgelagerte Aufgaben
Bild: Indtact GmbH






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